51

Annies Eltern warteten auf uns, als wir durch das Ankunftsgate kamen. Ich hatte noch kein Foto von ihnen gesehen, aber sie sahen beide Annie so ähnlich, dass ich sie auch so erkannt hätte. Sie waren Ärzte, und sie machten einen ganz jungen und gesunden Eindruck. Als sie uns erblickten, lachten ihre Augen ganz ähnlich, wie Annies das immer taten.

Ihr Vater küsste Annie, dann gab er mir die Hand.

»Du musst Ryan Dean sein«, sagte er. »Annie schwärmt sehr von dir.«

Ich blickte sie an, und sie wurde tatsächlich rot. Ich konnte es kaum glauben: Annie Altman und rot werden! Ich fragte mich, ob sie genauso eine innere Stimme hatte wie ich, mit der sie sich in diesem Augenblick einen Loser nannte, auch wenn ich echt fand, dass es total heiß aussah. Das Rotwerden, meine ich.

»Danke«, sagte ich, und dann dachte ich: So eine blöde Antwort, und fügte hinzu: »Doktor Altman.« Was noch blöder klang.

Dann umarmte mich Annies Mom, was mich aus zwei Gründen irgendwie erregte: erstens, weil sie eine Ärztin war und ich mir deswegen sofort vorstellte, sie würde mich auffordern, mir die Hose auszuziehen, und zweitens, ich kann es nicht leugnen, weil sie Annies Mutter war und ich sie folglich echt heiß fand.

Und sie sagte: »›Doktor Altman‹ funktioniert in unserer Familie nicht. Da wissen wir gar nicht, wen du meinst. Aber du bist sehr höflich, Ryan Dean.«

Jetzt war es an mir, rot zu werden. Loser.

»Sag einfach Rachel zu mir, und der andere Doktor Altman heißt Keith.«

Ich mochte es gar nicht, Erwachsene beim Vornamen zu nennen. Das kam mir so hippiemäßig und Siebzigerjahre vor. Ich beschloss daher, sie wenn möglich gar nicht mit Namen anzureden oder, wenn es doch sein musste, »Doc Dad« und »Doc Mom« zu ihnen zu sagen.

Annies Vater musste uns zum Hafen in Seattle fahren, wo wir die Fähre nahmen. Nach Bainbridge Island, wo sie wohnten, fuhr man fünfunddreißig Minuten. Ich war vorher noch nie in Seattle gewesen, und vom ersten Eindruck her war es eine der imposantesten Städte, die ich je gesehen hatte, direkt an der von Bäumen gesäumten Küste gelegen, im Schatten eines riesigen Vulkans.

Auf dem Weg zum Hafen unterhielten wir uns über die Schule und Sport. Doc Dad war einer der ganz wenigen Erwachsenen in Amerika, die ich kannte, die selbst auf dem College Rugby gespielt hatten, deshalb verstanden wir uns auf Anhieb, auch wenn er Loose Forward gewesen war. Loose Forwards sind in der Regel nicht die höchstentwickelten Primaten auf dem Planeten. Trotzdem merkte ich, dass ich mit Annies Familie gut klarkommen würde.

Auf dem Rücksitz mit Annie Händchen zu halten kam allerdings definitiv nicht in Frage. Ein Blick von ihr reichte, um mir das wortlos mitzuteilen. Und ich spürte auch, wie sie wieder ein bisschen verlegen wurde, als ihre Eltern von ihr zu erzählen anfingen.

»Annie hat uns viel von dir erzählt, Ryan Dean«, sagte ihre Mutter. »Guck mal, ob wir richtig zugehört haben. Sie sagt, du wärst der gescheiteste Junge in der Schule, du wärst ein toller Sportler, und du hättest es schon in der zehnten Klasse in die Rugby-Schulauswahl geschafft. Außerdem sagt sie, du wärst der bestaussehende Junge an der Schule.«

Annie hüstelte.

Ich bekam rote Ohren.

»Du bist Annies erster fester Freund«, sagte ihr Vater.

»Okay, das reicht jetzt«, sagte Annie. »Ryan Dean und ich sind einfach gute Freunde. Mehr nicht.«

Bei »fester Freund« lag für mein Gefühl der Gedanke an laichende Lachse nicht fern, wie Seanie wahrscheinlich bemerkt hätte.

»Erzähl mal, wo du wohnst, Ryan Dean«, sagte Doc Mom und drehte sich mir seitlich zu.

»In der O-Hall«, sagte ich, und dann fragte ich mich, warum ich so ein elender Schwachkopf war. Ich hatte gar nicht richtig hingehört, ich war zu sehr mit der Vorstellung beschäftigt gewesen, Annies »fester Freund« zu sein.

Annie hüstelte wieder, zweifellos weil sie an dem Gedanken schluckte, einen straffälligen Jugendlichen übers Wochenende mit nach Bainbridge Island mitzubringen.

»Ich wollte sagen … ich wohne in Weston«, berichtigte ich mich. »Ich fahre nicht oft nach Hause.«

»Wie schade«, sagte Doc Mom. »Na, du darfst uns gern jederzeit besuchen, wenn du magst.«

Ich blickte Annie an und grinste, und sie formte mit den Lippen »Perversling«.

Wir reihten uns in eine Schlange von Autos ein, die auf die Fähre wollten.

»Und, was hat euch beide zusammengeführt?«, fragte mich Doc Dad.

»Annie war der erste Mensch, den ich an der Pine Mountain kennenlernte«, sagte ich. »Ich war am Anfang echt verloren und desorientiert.« Ich ließ meine Hand über den Sitz zu Annies Fingern wandern, und sie zog ihre Hand fort. »Aber Annie kam sofort an und stellte sich vor und zeigte mir alles. Seit dem Tag ist sie meine beste Freundin, und ich würde alles für sie tun.«

»Du bist so ein lieber Junge!«, zwitscherte Doc Mom. »Warst du schon einmal in Seattle, Ryan Dean?«

»Nein, Ma’am«, sagte ich mit dick aufgetragener Höflichkeit und sah in Gedanken kurz die erträumte Couch in Annies Zimmer vor mir. »Aber es ist wirklich sehr schön hier.«

»Warte ab, bis du das Haus siehst«, sagte sie. »Es liegt direkt am Wasser, und man hat einen Blick über den Sund auf Seattle und den Mount Rainier. Der Fleck ist wirklich perfekt.«

Na klar, dachte ich, wie denn auch nicht? Solange Annie mit drin ist – und ihr mir ihren schwulen Hund vom Leib haltet –, könnt ihr von mir aus in einem verfickten Sperrholzverschlag wohnen.

»Ach, das habe ich ganz vergessen«, sagte Annie. »Hast du eine Badehose dabei? Wir haben ein Schwimmbecken und einen Whirlpool im Haus.«

»Wow«, sagte ich. »Nein. Habe ich nicht.«

Ich sah an mir hinunter, dann zuckte ich die Achseln und flüsterte Annie zu: »Ich gehe ohne.«

Annie verdrehte die Augen.

»Wir können dir auf der Insel eine besorgen, Ryan Dean«, sagte Doc Mom.

Volltreffer.

Selbst wenn es das ganze Wochenende regnete, konnte ich trotzdem Annie Altmans Poolboy sein.