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Grün.

Bainbridge Island ist grün.

Die Insel ist einer der grünsten Flecken, die ich je gesehen habe. Und das Haus, in dem Annies Familie wohnte, hätte ich mir im Leben nicht vorstellen können.

Es war direkt am Ufer, mit Blick auf den Puget Sound und dahinter Seattle. Wir fuhren eine lange Zufahrtsstraße durch den Wald zur Garage und gingen dann auf einem Fußweg durch den Garten, den eigenartige schöne Metall- und Emailskulpturen von Fischen, anderen Tieren und Totemfiguren zierten.

»Annie hat all diese Skulpturen selbst gemacht«, sagte Doc Mom, »in ihrem Studio.«

Sie waren unglaublich. Ich schaute Annie an. Ich hatte gewusst, dass sie kreativ und brillant war, aber mir war nicht klar gewesen, dass sie so etwas Fantastisches machen konnte.

»Du bist unglaublich«, sagte ich zu ihr.

»Danke«, sagte sie.

Der Garten öffnete sich, und wir traten auf eine weite Rasenfläche vor dem Haus, das größtenteils aus Stein war und an der ganzen Front zum Wasser hin hohe Fenster hatte. Hart am Rand, wo der Rasen in einen Hang mit Uferfelsen aus schwarzer Lava überging, war eine breite Holzterrasse. Man sah von dort kein anderes Haus; das Grundstück war von Wald umschlossen.

Als wir gerade die Haustür erreichten, schien die Sonne hinter uns im Westen im perfekten Winkel, und ganz Seattle nahm einen rostroten Farbton an, und der Gipfel des Mount Rainier schwebte lachsfarben am Himmel.

»He«, sagte ich, »man kann von hier aus die Space Needle sehen.«

Annie verdrehte die Augen.

»Wenn du dich von deinen gefilzten Sachen trennen kannst und dich umziehst, können wir vor dem Abendessen noch am Strand spazieren gehen«, sagte sie.

Ich gebe gern zu, dass mein umgekrempelter Strumpf mich störte, aber außer den Schulsachen hatte ich nur Laufhose, Trainingsanzug und meine neue Badehose mit.

»Okay«, sagte ich.

Doc Dad ging in die Diele voraus und sagte: »Annie, wie wär’s, du bringst Ryan Dean ins Gästezimmer.«

Verdammt.

»Ach, er will bestimmt nicht so weit ab vom Schuss sein, ganz allein«, sagte sie.

O mein Gott. Wird der Traum Wirklichkeit?

Annie fuhr fort: »Ich quartiere ihn in dem kleinen Zimmer gegenüber von meinem ein.«

In dem Moment hörte ich das Klicken gestutzter Hundekrallen auf dem Holzfußboden, gefolgt von einem schrill quiekenden Kläffen, dann erschien ein plattnasiger kleiner Hund, der augenblicklich mein Bein ansprang.

»Pedro!«, schimpfte Annie.

»Gib ihm einfach einen Tritt«, sagte Doc Mom. »Sonst hört er nie auf.«

Tja, wenn jemand dich aufgefordert, seinem Hund einen Tritt zu geben – dem nämlichen Hund, der gerade an deiner besten doofen Schulhose in einen Paarungstaumel gerät –, dann ist es nicht ganz einfach, genau einzuschätzen, wie hart der Tritt ausfallen sollte. Ich beschloss daher, Pedro gemäßigte drei von fünf Kosakentänzern auf der Ryan-Dean-West-Trittstärkenskala für schwule Mopse zu geben.

»Das ist gemein!«, rief Annie, aber sie lachte doch ein bisschen, als Pedro wie ein Eishockeypuck auf das abgesenkte Wohnzimmer zuschlitterte.

»Gut gemacht, Ryan Dean«, sagte Doc Dad. »Ich weiß nicht, warum wir ihm noch nicht die Eier abgeschnitten haben.«

Und wie kommt es, dachte ich, dass Jungen auf die Erwähnung solcher Maßnahmen – wie gerechtfertigt sie auch sein mögen – immer ein bisschen ängstlich, grämlich und beklommen reagieren?

Ach ja.

»Komm mit«, sagte Annie. Dann fasste sie meine Hand, um mich rechts den Flur hinunterzuführen. Plötzlich stockte sie.

Annie musste gemerkt haben, was sie da tat (anders als Pedro konnte sie den unwillkürlichen Impuls, sich mit Ryan Dean West zu paaren, gerade noch bezähmen), denn sie ließ augenblicklich meine Hand los wie ein glühend heißes Eisen, das … na ja, glühend heiß wird.

Oder so.

Ich folgte ihr, meine Reisetasche und den Beutel vom Sportwarengeschäft in der Hand.

»Die Tür rechts ist dein Zimmer«, sagte sie. »Direkt gegenüber von meinem.«

Ich machte die Tür auf und stellte mein Gepäck ab.

Es ist erstaunlich, wie dankbar man sein kann für ein nicht stockbettiges Bett und ein Bad, in dem sich nicht ständig mindestens zwei andere Jungen aufhalten. Das Fenster hatte keinen Vorhang und blickte auf den Strand und hohe dunkle Kiefern hinaus. Ich hatte einen eigenen Fernseher und ein großes Badezimmer mit einer Glasbausteinwand vor der Duschnische.

»Wie gefällt es dir?«, fragte Annie.

»Bitte adoptiert mich«, sagte ich. Dann fügte ich hinzu: »Nein. Wenn ich’s recht bedenke, könnte das ein wenig abartig werden. Lass uns einfach kurz über die Grenze nach Kanada fahren und heiraten.«

Annie lachte. Ich streifte meine Schuhe ab und sagte: »Ich zieh mich um.«

»Okay. Treffen wir uns in der Diele in, sagen wir, dreißig Sekunden«, sagte sie.

Hmmm … dachte ich, dreißig Sekunden hieß, dass ich Zeit hätte, mich aus-, aber nicht wieder anzuziehen. Ach ja, reines Wunschdenken. Doc Mom und Doc Dad würden den textilfreien Hausgast wahrscheinlich nicht so gern sehen, und ohnehin wartete draußen dieser Hund auf mich.

»Okay«, sagte ich, und Annie ließ mich allein.

Nach einem Flug fühle ich mich jedes Mal wie frittiert und von Fett triefend. Und wahrscheinlich roch ich nach Alkohol von dem betrunkenen dicken Glatzkopf, der an meiner Schulter gesabbert hatte. Es fühlte sich daher toll an, mir alle Kleider vom Leib zu reißen (ohne dass zwei Sicherheitsmänner sie durchwühlten), und noch toller, sie einfach auf den Boden zu schmeißen. Das hatte ich das ganze Jahr nicht machen können.

Mit den ganzen am Boden verstreuten Sachen sah der Raum schon wie ein richtiges Jungszimmer aus.

Jetzt musste ich nur noch die perfekt glatt gestrichenen Bettdecken zerwühlen, was ich mit einem Sprung erledigte.

Ich zog die rote Badehose an, die sie mir gekauft hatten, dazu ein graues Sweatshirt mit der Aufschrift Pine Mountain RFC (was Rugby Football Club bedeutet), saubere Strümpfe, richtig herum, und meine Laufschuhe, und in weniger als einer Minute war ich zur Tür hinaus und in der Diele.

Annie öffnete ihre Tür.

Sie konnte anhaben, was sie wollte, Annie Altman sah immer perfekt aus. Sie trug jetzt ausgeblichene Jeans, die an den Knien und unten an den Gesäßtaschen gerade anfingen durchzuscheuern, dazu einen hellblauen Pullover, zu dem ihre schwarzen Haare und blauen Augen selbst bei der trüben Dielenbeleuchtung einen markanten Kontrast bildeten.

Ich hatte sie vorher noch nie in ihren eigenen Sachen gesehen und konnte den Blick gar nicht von ihr abwenden.

Und ich bin so ein Loser, dass ich nicht einmal antworten konnte, als sie fragte: »Willst du mein Zimmer sehen?«

Ihr Zimmer war total … Annie. An den Wänden hingen Gemälde und Skulpturen von Fischen und Vögeln, die sie gemacht hatte. Ihre Fenster gingen auf den Wald hinaus, und sie hatte eine Terrassentür, durch die man auf einen Trittsteinpfad gelangte.

Neben ihrem Bett stand ein Wonder Horse, eines von diesen Schaukelpferden mit Federaufhängung, mit denen Kinder schon vor hundert Jahren gespielt haben.

»Wow«, sagte ich, aber mir brach die Stimme wie einem, dem plötzlich klar wird, dass er im Zimmer des Mädchens, das er liebt, mit ihr allein ist, was angesichts der erschlagenden Realität der Situation nicht verwunderlich war. »Schaukelst du da noch drauf?«

Annie lachte. »Komm mit.«

Sie machte die Glasflügeltür auf und ging voraus auf den Pfad vor ihrem Zimmer.