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Etwas Beschisseneres konnte es gar nicht geben, als im vorletzten Schuljahr einsamer Klassenbester und dabei gerade mal vierzehn zu sein. Irgendwie musste ich mich für die qualvollen ersten Wochen des Schuljahres stählen und mir meine Situation wenigstens ein klein bisschen rosiger malen, und so sagte ich mir, dass es bestimmt immer noch besser war, als im letzten Schuljahr und fünfzehn zu sein.
Oder?
Ich heiße Ryan Dean West.
Ryan Dean ist mein Vorname.
Normalerweise kommt man nicht auf die Idee, dass es in einem einzelnen Namen ein Leerzeichen und zwei Großbuchstaben geben kann, aber in meinem gibt’s die. Kein Bindestrich. Ein Leerzeichen. Und meinen zweiten Vornamen sage ich nicht.
Ich fluche auch niemals außer beim Schreiben und gelegentlich im stillen Gebet, deshalb muss ich mich gleich vorneweg entschuldigen, denn ich sehe jetzt schon, dass ich alles nehmen muss, was die Sprache an Unflätigkeiten hergibt, wenn ich erzählen will, was mir und meinen Freunden im elften Schuljahr an der Pine Mountain passierte.
Die PM ist ein renommiertes Internat für Reichenkinder. Das heißt aber auch, dass sie ein Internat für Reichenkinder ist, die sich zu viel Stress anlachen, weil sie allein sind und von ihren Eltern vernachlässigt werden, die sich derweil als Abgeordnete oder Investmentbanker oder Profisportler in der Weltgeschichte herumtreiben. Und ich weiß, dass ich nicht wirklich auf die schiefe Bahn geraten war, aber trotzdem beschlossen sie an der Pine Mountain, mich in die sogenannte »Opportunity Hall« zu verlegen – das Wohnhaus, wo die richtig üblen Kandidaten sozusagen die »letzte Gelegenheit« erhielten –, als sie dahinterkamen, dass ich einen Handy-Account gehackt hatte, damit ich unentdeckt umsonst telefonieren konnte.
Ich wäre deswegen fast geflogen, aber meine Noten retteten mich.
Eigentlich gehe ich gern zur Schule, was den Loser-Quotienten weit über das Maß hinaus steigert, das die meisten andern erreichen. Das macht der krasse Zweijahresrückstand.
Das Handy gehörte einem Lehrer. Ich stahl es, und meine Eltern flippten aus, aber nur ungefähr eine Viertelstunde. Mehr Zeit konnten sie dafür nicht erübrigen. Aber selbst in den wenigen Minuten zählte ich den Satz »Wie konntest du nur, Ryan Dean?« siebenundvierzigmal.
Ehrlich gesagt ist das nur eine Schätzung. Ich fing erst ungefähr nach der Hälfte der Strafpredigt zu zählen an.
Wir dürfen hier keine Handys haben, auch keine iPods oder sonst etwas, das uns von »unseren Unterrichtszielen« ablenken könnte. Die meisten Schüler an der PM halten sich auch voll an die Vorschrift, allerdings fahren die meisten jedes Wochenende nach Hause und haben dort dann alles zur Verfügung. Wie Junkies, die sich ihren Schuss erst setzen, wenn die Luft rein ist.
Ich kann verstehen, warum sie hier so streng sind: Sie wollen die beste Schule überhaupt für die reichen Asozialen von morgen sein. Andererseits wollte ich mit dem Telefon bloß Annie anrufen, die übers Wochenende zu Hause war. Ich war einsam, und sie hatte Geburtstag.
Ich wusste bereits, dass ich mir in der O-Hall das Zimmer mit Chas Becker teilen würde, einem Zwölftklässler, der im Rugbyteam der Schule zweite Reihe spielte. Chas war groß und breit wie ein Baum und ungefähr so intelligent. Ich konnte ihn nicht ausstehen, und das hatte nichts mit der uralt eingefleischten Rivalität zwischen Hinter- und Vordermannschaft im Rugby zu tun. Chas war ein Scheißkerl. Er hatte keine Freunde, und auf seiner Fahrt über die Hochsee der Highschool hielt er das Ruder hart auf einem Kurs der Einschüchterung und Brutalität. Und obwohl ich seit dem Ende des Vorjahres ungefähr zehn Zentimeter gewachsen war und mir gern einredete, dass ich endlich – endlich! – nicht mehr aussah wie eine präpubertäre Sprotte in einem Teich voller Hammerhaie wie Chas, wusste ich, dass meine pädagogisch motivierte Zusammenlegung mit Chas Becker als Stockbettgenossen wahrscheinlich nichts weiter war als die »letzte Gelegenheit«, in einem Leichensack nach Hause zurückzukehren.
Aber ich kannte Chas aus der Mannschaft, obwohl ich im Training nie ein Wort mit ihm wechselte.
Ich war vielleicht kleiner und jünger als die andern, aber für alles bis zu hundert Metern war ich der schnellste Läufer an der ganzen Schule. Das könnte erklären, warum ich im Vorjahr am Ende der Saison als dreizehnjähriger Zehntklässler in der Stammmannschaft der Schule Wing spielte, also Flügel oder »Außendreiviertel«, wie es technisch korrekt heißt.
Außer Schlips und Uniform zu tragen wurde von allen Schülern an der PM verlangt, dass sie Sport machten. Ich landete irgendwie beim Rugby, weil ich Hundertmeterlauf stinklangweilig fand und Rugby ein Sport ist, den man auch als Kleiner spielen kann – wenn man schnell genug ist und es einem nichts ausmacht, ab und zu umgenietet zu werden.
Ich rechnete mir also aus, Chas davonlaufen zu können, falls er je durchknallte und auf mich losging. Aber selbst jetzt, wo ich das schreibe, kann ich mich gut daran erinnern, wie es war, dort in unserem stillen Zimmer auf dem unteren Bett zu sitzen, mit Grausen auf die Tür zu starren und darauf zu warten, dass mein Zimmergenosse an diesem ersten Sonntagmorgen im September zum Schulanfang aufkreuzte.
Ich musste nur das erste Halbjahr der elften Klasse überstehen, ohne mir noch mehr Stress anzulachen, dann durfte ich einen Antrag auf Rückverlegung in mein Zimmer mit Seanie und JP im Jungenhaus stellen. Aber beides, mir keinen Stress anzulachen und das Zusammenwohnen mit Chas Becker zu überleben, würde mich rund um die Uhr beschäftigen. Das war mir klar, bevor ich ihn überhaupt zu Gesicht bekam.