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Wir spazierten im Sonnenuntergang über den felsigen Strand.
Das Wasser im Sund war ganz schwarz und kabbelig, wie lebendig. Alles roch nach Meer und Wald. In den Felsspalten erspähte ich die Scheren dort kauernder Krabben, die Blasen spuckten und sich manchmal ein wenig bewegten, als wollten sie uns im Auge behalten, als bespitzelten sie uns.
»Morgen früh können wir dort hinten hinlaufen.« Annies Hand deutete auf eine ferne, dunkel werdende Baumgruppe.
»Ist das schön hier«, sagte ich. Meine Schuhe waren nass, weil ich zu dicht am Wasser ging. »Vielen Dank für die Einladung, Annie.«
»Ich wusste, dass es dir gefallen würde.«
»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Künstlerin bist«, sagte ich.
»Genau wie du«, sagte sie.
»Quatsch. Du kannst viel mehr. Ich zeichne Strichmännchen. Du machst richtige Kunst.«
»Meine Eltern mögen dich gern, das merke ich.«
Ich zog einen Zipfel meiner Badehose aus einem Hosenbein. »Ich habe die Badehose an.«
»Die steht dir gut.«
Wir blieben stehen und drehten uns zum Haus um. Es wurde langsam dunkel.
Ich war sicher, dass sie dasselbe Spiel mit mir spielte wie ich mit ihr, aber ich wollte mich nicht bluffen lassen. Keine Sekunde. In mir war immer noch diese vernünftige Jammerstimme, die mir erklärte, dass Annie Altman mich doch bloß für einen kleinen Bubi hielt und sonst gar nichts.
Aber wir standen doch eine Weile dort, und ich konnte sie riechen und die Wärme fühlen, die von ihr ausging wie elektrische Ladung. Sie betrachtete mein Gesicht, und wir waren uns ganz nahe, als sie sagte: »Deine Narbe sieht aus, als ob sie langsam verheilt.«
Ich beugte mich näher heran. Verdammt, sie war zu schön, und ich war total beeindruckt davon, wie sie wohnte und was für schöne Sachen sie mit ihren eigenen Händen machte, und ich wollte sie …
Küss sie nicht, Ryan Dean West.
Puh.
Ich bin voll der Loser. Sie wusste genau, was sie tat.
Sie setzte sich in Richtung Haus in Bewegung, und mit ihrer singenden Stimme, die so klang, als wüsste sie alles und nichts wäre wichtig, sagte sie über die Schulter: »Erzähl mir ja nicht, du hättest es eben nicht beinahe getan, Ryan Dean.«
Verdammt.
Ich konnte nichts sagen.
Annie blieb stehen und blickte sich zu mir um. »So. Damit sind wir quitt. Gib’s zu.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte ich. Ich folgte ihr, und als ich sie eingeholt hatte, nahm ich ihre Hand.
»Ich wette, JP wäre eifersüchtig«, sagte ich.
»Fang damit gar nicht erst an, West. Du hast gesagt, wir sollten nicht über JP reden.«
»Okay.«
Ich seufzte. In dem schwindenden Licht hatten wir gar nicht bemerkt, dass ihre Eltern weiter hinten am Strand standen und uns beobachteten. Aber wir ließen uns nicht los.
Ihr Vater hatte den Arm um die Schultern ihrer Mutter gelegt. Doc Mom lächelte und sagte: »Das sieht sehr nett aus, wie ihr da zusammen am Strand spaziert.«
Nach dem Abendessen gingen Annie und ich in die Poolhalle zum Schwimmen.
Leider kamen ihre Eltern mit. Sie saßen einfach im Sessel und lasen, behielten uns aber im Auge, und ich glaube, sie taten es gerne. Aber als wir im Warmwasserbecken saßen, fing ich an, mit Annies Füßen zu spielen und ihre Beine mit meinen zu reiben. Es war das schönste Gefühl, das ich mir hätte träumen können, und ich merkte, dass es Annie auch gefiel, aber ich war wirklich am Durchdrehen. Also lehnte ich den Kopf nach hinten auf den Beckenrand und schloss die Augen, damit sie ja nicht dachte, ich wollte sie küssen. Oder sonst was. Aber zugegeben, Annie hätte nur flüstern müssen: »Komm, wir gehen nackt baden«, und diese gottverdammte rote Rettungsschwimmerbadehose hätte am Dachbalken gebaumelt.