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Niemand musste in der O-Hall anklopfen.
Die grifflosen Türen ließen sich eh nicht abschließen.
Der Umstand vor allem war schuld daran, dass ich zum fröhlichen Auftakt kopfunter in der Kloschüssel gehangen hatte.
Als ich die Tür aufknarren hörte, zogen sich mir daher sämtliche Eingeweide auf Weinbeerengröße zusammen.
Es war aber nur Mr Farrow, der hausinterne Erzieher. Er streckte sein Mäusegesicht zum Zimmer herein, sondierte durch dicke Brillengläser die Lage und blickte enttäuscht auf meinen ungeöffneten Koffer und die daran gelehnte vollgestopfte Reisetasche mit Rugbysachen. Sie bildeten eine Barriere vor mir, während ich zusammengesunken auf dem unteren Bett im Schatten saß, als ob ich mich vor Chas Beckers befürchtetem Eintreten in einem Fuchsbau versteckte.
»Ryan Dean«, sagte er, »dir bleibt noch Zeit, deine Sachen auszupacken, bevor du deinen Stundenplan abholen gehst, aber ich fürchte, du wirst dich beeilen müssen.«
Ich blickte an Farrows Kopf vorbei in den dunklen Flur, um zu sehen, ob er allein war.
Mir fehlte immer noch mein einer Schuh.
»Ich kann das ja am Nachmittag machen, Mr Farrow«, sagte ich. »Oder vielleicht nach dem Abendessen.«
Ich beugte mich vor und stützte sprungbereit die Hände auf meinen Koffer. »Soll ich ins Sekretariat gehen?«
»Noch nicht.« Mr Farrow blickte auf die Mappe, die er in der Hand hatte. »Dein Termin ist um ein Uhr fünfzehn. Du hast noch Zeit.«
Ein Schatten erschien hinter ihm.
»Verzeihung mal, Mr Farrow.«
Und damit stieß Chas Becker die Tür weit auf, wuchtete zwei Stofftaschen an Farrow vorbei, die aussahen, als wären sie hervorragend als Leichensäcke geeignet, und ließ sie mit einem Rums mitten im Zimmer fallen.
Da bemerkte Chas mich, und ich sah den konsternierten Ausdruck in seinem Gesicht.
»Wohne ich etwa mit Winger zusammen?« Er wandte sich zu Farrow um, als wüsste er nicht, ob er im richtigen Zimmer gelandet war. Dann stierte er mich wieder an. »Was macht der denn in der O-Hall?«
Ich wusste nicht, ob ich antworten sollte. Und ich wusste nicht, ob Chas überhaupt meinen richtigen Namen kannte, weil er mich wie viele im Team einfach Winger nannte (nach meiner Flügelposition) oder Elfer (nach der Nummer auf meinem Trikot). Die ein-, zweimal, wo ich einen Schuss vergeigt hatte, war es auch schon mal Chicken Wing gewesen oder etwas Schlimmeres, ziemlich ähnlich wie Winger, nur statt der nasalen Konsonanten in der Mitte eher so kehlig-zischende.
Ich äugte zu Farrow hinüber, aber der zuckte die Achseln, als erwartete er, dass ich etwas sagte. Ach, und außer der Sportpflicht, dem Handyverbot sowie Schlips und Uniform galt an der PM auch das strikte Moralgesetz, immer die Wahrheit zu sagen, vor allem vor Vertretern der Wahrheitspolizei wie Mr Farrow.
»Ich habe ein Handy gestohlen.« Ich schluckte. »Von einem Lehrer.«
»Winger klaut?« Chas grinste. »Wie cool ist das denn? Oder ist es bescheuert? Keine Ahnung.«
Es war mir peinlich. Ich fixierte meine auf den Koffer gestützten Hände.
Da trat Chas mit seinen ganzen eins paarundneunzig und seinem nach vorn gegelten Irokesenkamm ans Bett, baute sich vor mir auf wie ein wandelnder Baum und sagte: »Aber du sitzt auf meinem Bett, Winger. Setz dich nie wieder auf mein Bett! Du gehst nach oben.«
»Okay.«
Ich hatte nicht vor einzuwenden, dass an der Pine Mountain traditionell »Wer zuerst kommt, mahlt zuerst« galt. Ich rechnete eh damit, gleich eine verpasst zu bekommen, und war daher froh, dass Mr Farrow unserem herzerquickenden Miteinander-bekannt-Werden beiwohnte. So gern ich sonst immer zur Schule gegangen war, plötzlich begriff ich, dass das schlichte Hinzukommen eines einzigen Chas Becker aus diesem konkreten Sonntag vor dem ersten Schultag eine einmalige Scheiße machte. Das und natürlich die Geschichte mit dem Kopf im Klo.
Da räusperte sich Mr Farrow wie ein Mäuschen und sagte: »Du wirst dir eine neue Frisur zulegen müssen, Chas.«
Nichts, was auch nur entfernt nach disziplinlos oder unkonventionell roch, wurde an der PM geduldet. Nicht einmal Bartwuchs. Nicht dass ich in der Beziehung irgendetwas zu befürchten hatte. Ich hatte an der PM schon Mädchen gesehen, die eher gegen diese Vorschrift verstießen als ich. Wenn überhaupt, dann hatte ich mir höchstens mal ein paar Punkte bei einer Analysisarbeit abrasiert, damit meine Freunde sich nicht über mich ärgerten, weil ich den Benotungsmaßstab zu sehr nach oben trieb.
»Ich rasier sie mir nach der Stundenplanausgabe ab«, sagte Chas.
»Du wirst es wohl vorher tun müssen«, entgegnete Farrow. »Du weißt«, fügte er zur Begründung hinzu, »dass heute Passbilder gemacht werden, und so kannst du da nicht erscheinen.«
Ich wartete, bis Chas einen Schritt zurückgetreten war, dann stand ich auf, stieß dabei allerdings voll mit dem Kopf an den Metallrahmen des Bettes. Während ich mir den Schädel rieb, hatte ich den Verdacht, dass Chas bloß abwartete, bis Farrow weg war, um mir fürs Erste den Fußboden als Liegeplatz zuzuweisen.
»Brauchst du vielleicht auch einen Kopfschutz fürs Bett, Winger?« Einige Spieler im Rugby tragen einen Kopfschutz, aber als Wing braucht man keinen. Der einzige Nutzen, den sie haben, ist nämlich zu verhindern, dass einem die Ohren abgerissen werden, weshalb Zweite-Reihe-Stürmer wie Chas sie tragen müssen. Überhaupt hatte ich schon bei seinem Eintreten so ein Ding oben auf seiner Sporttasche gesehen, und ich hatte große Lust – verdammt große Lust – ihm eine schlagfertige Antwort zu geben, damit Farrow gleich mal mein neues Elftklässler-Ich erlebte, aber mir fiel leider nichts Geistreiches ein, weil mir der Schädel so weh tat.
Ich hatte einen Mordshass auf Chas Becker.
An jedem der beiden Schreibtische im Zimmer stand ein Stuhl, aber ich hütete mich, mir einen heranzuziehen, weil Chas natürlich gesagt hätte, das wäre auch seiner. Während ich unsicher auf das obere Bett kraxelte und für das Problem, wie um Himmels willen ich bei unwiderstehlichem Harndrang mitten in der Nacht aus dem Bett und wieder hinein kam, schon an der Erfindung der Ryan-Dean-West-Gatorade-Urinflasche für nächtliche Notfälle herumtüftelte, schlüpfte Farrow rückwärts zur Tür hinaus und zog sie hinter sich zu.
Jetzt war ich mit Chas allein.
Freudige Aussichten.
Anbahnung einer Männerfreundschaft.
Unwillkürlich fragte ich mich, wie viel Blut der Siebzig-Kilo-Fleischsack, in dem ich herumlief, wohl enthalten mochte.
Na ja, ehrlich gesagt wiege ich bloß vierundsechzigeinhalb Kilo.
Jaja … ich bin ein mickerärschiger Loser.
Dabei hatte ich noch am Morgen kurz nach der Ankunft ein Gespräch mit meiner allerbesten Freundin Annie gehabt. Annie Altman war freiwillig an der Pine Mountain, sie hatte sich selbst dafür entschieden. Echt jetzt.
Annie Altman ging auch in die elfte Klasse, was bedeutete, dass sie volle zwei Jahre älter war als ich, weshalb die meisten Leute davon ausgehen würden, dass zwischen uns unmöglich mehr laufen konnte als eine bescheidene Kameradschaft, und wenn ich sie noch so superheiß fand auf eine aufreizende und reife kesse-Babysitterin-mäßige Art. Ich war mir allerdings sicher, dass ich für Annie nicht viel mehr war als eine Art Knuddeltier-Ersatz für die Zeit hier im Internat, wahrscheinlich so was wie eine kleine Rotwangenschildkröte. Wenigstens konnte sie an den Wochenenden nach Hause fahren und durfte die Knuddeltiere um sich haben, die sie wirklich liebte.
Ich hatte gehofft, sie würde sich irgendwann daran gewöhnen, aber kein Spagat der Welt kann die Kluft überbrücken zwischen vierzehnjährigen Jungen und Mädchen, die sechzehn sind, selbst wenn ich den Sommer über gewachsen war, selbst wenn ich nicht mehr so sehr wie ein kleiner Bubi aussah oder mich wie einer anhörte.
Selbst wenn Annie alles wusste, was es über mich zu wissen gab.
Na gut, das mit der Kloschüssel erzählte ich ihr nicht.
Jedenfalls machte Annie mir klar, dass es in dem Jahr für mich um die Wurst gehen würde und dass ich die Zähne zusammenbeißen musste, wenn ich in der O-Hall überleben wollte, denn da zu wohnen war nicht viel was anderes, als im Knast zu sitzen, fanden wir.
Es machte mich ganz kribbelig und schnürte mir die Kehle zu, als sie mir erklärte, auch wenn ich vielleicht erst mal was einstecken müsste, sollte ich mir bei den andern Respekt verschaffen und denen sofort beibringen, dass mit Ryan Dean West nicht zu spaßen war.
Sie sagte, diese Strategie hätte sie in einer Doku über Männer gesehen, die im Gefängnis umgebracht werden.
Jetzt war ich also mit Chas allein. Ich schloss die Augen, versuchte mich zu entspannen und fragte mich, ob dies gerade meine letzten Atemzüge waren oder die Vorbereitung darauf, Chas Becker die Zähne zu zeigen und jemand Neues zu werden.
Oder so.
Im Zimmer brannte kein Licht. Das war übel, fand ich. Manche Leute tun andern furchtbare Sachen an, wenn das Licht aus ist, selbst bei Tag.
In der unausgesprochenen Universalsprache der Psychopathen ist ein runtergedrückter Schalter so was Ähnliches wie ein Piktogramm von zwei Strichmännchen, von denen das eine die Umrisse eines mickrigen Vierzehnjährigen hat und vom andern Strichmännchen erwürgt wird.
Von meinem Platz auf dem Stockbett aus konnte ich den Kamm von Chas’ Iro erkennen, der auf mich deutete, und das Weiße in seinen Augen, die direkt auf mich gerichtet waren.
Chas fing an auszupacken und seine zusammengelegten Sachen in die offenen Fächer zu kramen, die an einer Seite unseres gemeinsamen Schrankes leiterartig übereinander angeordnet waren.
»Hast du Geld?«, fragte er.
Und ich dachte: Gott, jetzt fängt er schon gleich mit dem Erpressen an! Ich versuchte mich an Annies Ratschlag zu erinnern, aber als taffeste Zähnezeige-Antwort, die nicht auf Lateinisch war, fiel mir nur ein: »Warum?«
Chas legte seine leeren Taschen zusammen und stieß sie mit dem Fuß unters Bett. Er drehte sich um, und ich fühlte, wie er mich anatmete. Er legte beide Hände auf meine Bettkante, und in dem Moment kam ich mir vor wie ein Wellensittich – aber ein taffer, die Zähne zeigender Wellensittich – im Blickduell mit einem Salzwasserkrokodil.
»Später kommen heimlich ein paar Jungs zum Pokern her. Darum. Sonntags spielen wir hier immer Poker. Buy-in zwanzig Dollar. Kannst du Poker spielen?«
»Ich bin dabei.«
Ich weiß nicht, ob an dem Punkt die Atemnot größer war oder das Schwindelgefühl, aber ich überlebte meine erste Zweiersituation ohne Zeugen mit dem Kerl, der nach meiner festen Überzeugung alles daransetzen würde, mir das Leben zur Hölle zu machen, bevor er mich irgendwann in meinem elften Schuljahr an der Pine Mountain umbrachte.