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Ich kam zu dem Schluss, dass Whiskey aus einem Schnapsglas von Maxine’s House of Spirits in Atlanta um Längen besser schmeckte als Bier aus der Dose, selbst wenn ich eines von Kevin Cantrells Beinhaaren darin schwimmen sah.
Wenn schon, ein Beinhaar von jemand anders zu trinken bringt einen nicht um, nicht wahr? Aber ich fühlte mich deswegen wie ein Zombie. Wegen des Beinhaars – das Fleisch der Lebenden fressen und so –, nicht wegen des Whiskeys, denn der hatte zur Folge, dass ich mich wie der Wolfsjunge von Bainbridge Island fühlte.
Außerdem beschäftigte mich die Frage, was Gandhi als Vegetarier und überhaupt von dieser Beinhaargeschichte gehalten hätte.
Mit andern Worten, jawohl, ich trank ein Glas Whiskey.
Na ja, um ehrlich zu sein, vielleicht zwei.
Ich weiß … ich bin voll der Loser.
Und ich werde mich nicht in Selbstmitleid suhlen oder meine Dummheit zu verteidigen versuchen, die zu einer Art Wolfsjungen-Gandhi-Mischreligion erhoben worden war, aber der Whiskey schwemmte mir die ganzen Nähnadeln aus der Kehle, und ich war so sauer wegen der Umarmung von JP und Annie, dass ich aufrichtig glaube, ich wollte mir damit was antun.
Ich hatte eh das Gefühl, dass ich am Morgen nicht zum Unterricht erscheinen würde.
Irgendwann hatte der Wolfsjunge mein Bewusstsein so ziemlich komplett unter Kontrolle, und nachdem er Maxines Schnapsglas zweimal auf ex gekippt hatte, war er bereit, gegen Chas und Casey gleichzeitig zu kämpfen, um sämtliche offenen Rechnungen zwischen uns zu begleichen.
Dann aber meinte der Gandhi in mir, ich sollte mich einfach von ihnen verdreschen lassen, bis sie es satt bekamen.
Es war also ein echtes moralisches Dilemma.
Kevin und Joey wirkten ruhig und klar wie immer. Ich glaube, sie tranken beim Spielen nicht so viel wie die beiden andern. Casey und Chas waren ziemlich blau. In meinen Augen war es ein Wunder, dass sie nicht rumbrüllten und Sachen zerdepperten und Mr Farrow aufweckten.
Nach ungefähr einer halben Stunde waren Chas und ich ziemlich am Abkacken, und es wurde so was wie ein Wettkampf zwischen uns, wer als Erster rausflog und die Strafe aufgebrummt bekam, auch wenn der Wolfsjunge von Bainbridge Island irgendwie darauf hoffte, dass er dann im Regen nackt durch den Wald laufen und irgendwas mit den bloßen Händen erjagen und roh verschlingen musste.
An dem Punkt sagte Chas zu Casey: »Was soll eigentlich dieser ganze Scheiß auf deiner MySite? Jetzt hast du da ein Bild stehen von dem seinem Sack …«
Er zeigte mit dem Daumen auf mich.
Na toll. Jetzt dachten alle, es wären meine Eier.
»… mit einem Pflaster drauf …«
Natürlich.
Sean Russell Flahertys kreativer Touch, versteht sich.
»… und diesen ganzen Scheiß, von wegen wie sehr du Ryan Dean West liebst, und dazu ungefähr fünfzig Bilder vom Muschibubi.«
Es verschlug mir richtig den Atem, dass Chas tatsächlich meinen Namen kannte, und auch, dass Seanie so viele Bilder von mir hatte.
Ich hoffte, sie waren gut.
»Ich hab keine Ahnung, welcher Fucker das war«, sagte Casey.
Ich blickte Joey an.
»So richtig von Herzen liebst du mich nicht, was, Palmer?«, sagte ich.
»Soll ich dich gleich umbringen oder erst später?«, antwortete er.
Chas knuffte Kevin an seinen guten Arm und sagte: »Gib mir noch ein Glas, Maxine.«
Chas leerte das Glas mit einem Schluck und sagte: »Scheiße, das Zeug schmeckt grässlich.«
So, und genau in dem Moment übernahm der Wolfsjunge komplett das Kommando über mein Seelenleben, während der Pazifist seinen Rausch ausschlief.
Ich sagte: »Vielleicht solltest du es mal mit einem Schuss Gatorade probieren, Chas.«
Ehrlich, ich sagte wirklich »Gatorade«, aber was ich dachte, war »vier Tage alte warme gegorene Muschibubi-Pisse«.
Er sagte: »Du hast Gatorade?«
»Nur noch ein bisschen.«
»Probier ich. Danke, Muschiluschi.«
Wow. Das war ja wie Weihnachten. Ich hatte einen neuen Hassnamen von Chas bekommen, und ich würde ihn gleich meine Pisse trinken sehen. Was konnte es Besseres geben?
Memo an Muschibubi mich selbst: Sobald Chas meine Pisse trinkt, wäre das der ideale Zeitpunkt, um feierlich zu geloben, nie wieder Megan Renshaw zu küssen.
NIE WIEDER.
Kevin begann einzuschenken.
»Lass bisschen Platz orrp«, sagte ich.
»Was?«, sagte Kevin.
Ich merkte, dass ich geknurrt hatte.
Der Wolfsjunge hatte dermaßen das Kommando übernommen, dass ich langsam die Fähigkeit verlor, mich nach den normalen sprachlichen Gepflogenheiten auszudrücken.
»Platz. Lass bisschen.«
Ich ließ mir von Kevin das Schnapsglas geben, bestieg damit mein Stockbett und durchwühlte es nach meiner Ryan-Dean-West-Gatorade-Urinflasche für nächtliche Notfälle. Ich schraubte sie vorsichtig auf.
Heiliger Pisspott von Pisa, so was Bestialisches! Ich konnte sie regelrecht spüren, die stinkende Gaswolke, die aus dem Flaschenhals quoll und mir übers Gesicht wischte wie die Hand eines feuchten Kadavers. Einmal kurz gegossen und schnell wieder zugeschraubt und runter vom Bett, dann stand ich schwitzend in meinem Lendenschurz vor Chas und reichte ihm seinen Drink.
»Gunga Din zu Diensten«, sagte ich.
»Versteht überhaupt irgendjemand, was du da immer für einen Fuck schwafelst?«, sagte Chas und nahm mir das Glas ab.
Ich guckte zu.
Meine Decke ging auf und fiel mir um die Füße.
Ich setzte mich hin.
Chas trank.
Ja! Verreck dran, Betch!
Er kniff die Augen zusammen, legte den Kopf schief, leckte sich die Lippen und sagte: »Ich glaube, pur schmeckt’s mir besser.«
Ich blickte Joey an. Ihm stand der Mund offen. Er sah aus, als wohnte er einer Enthauptung bei oder etwas, das noch schauriger war, eine Enthauptung vielleicht, wo das Opfer gezwungen wird, vorher die vier Tage alte gegorene Pisse von jemand anderem zu trinken. Mir ging auf, dass ich Joey auf der Rückfahrt von Salem von der Gatoradeflasche erzählt hatte.
»Fuck«, sagte Joey. Und ich weiß, er hätte mich abgeklatscht, aber er war zu sehr angewidert, und außerdem befürchtete er wahrscheinlich, dass ich Pisse an der Hand hatte.
»Was?«, fragte Chas.
»Nichts.«
Und dann wurde es an ein und demselben Tag zweimal Weihnachten, denn Casey sagte: »Lass mich das auch mal mit Gatorade probieren.«
Und an dem Punkt, ganz ehrlich, sah Joey mich an, als wäre ich ein abartiger Serienkiller oder als blickte ich dem sicheren Tod ins Auge oder so, aber mir war das schnuppe, denn ich war der knurrende und whiskeyverpissende Wolfsjunge von Bainbridge Island.
Ich verhielt mich unfassbar cool.
»Ich hab grad noch genug Grrrrade für ein Glas. Das will ich selber – ich.«
Ich war ein Affe geworden.
Rückblickend finde ich es einigermaßen verwunderlich, dass auf den weiten haarlosen Flächen meines mickerärschigen Körpers kein wilder Haarwuchs ausbrach.
»Dann fick dich eben«, sagte Casey. »Ich gehe all-in.«
Vor lauter innerem Jubel über die Pissration, die ich Chas verabreicht hatte, hatte ich gar nicht auf das Spiel geachtet, aber ich wusste, dass ich zwei Fünfen hatte, was aus der Perspektive eines zweifach schnapsbegossenen Neunundsechzig-Kilo-Kacksacks ganz gut aussah. Ich ging mit. Außerdem sagte ich: »Na gut, Palmer, du kannst es haben.«
Ich schwang mich abermals affenartig in mein Pissatorium und schenkte Casey eine stärkere Dosis ein.
Ich hörte Chas »Call« sagen, was bedeutete, dass wir beide unsere sämtlichen Chips gesetzt hatten und einer von uns definitiv rausfliegen und die Strafe bekommen würde, aber erst mal bekam der Saftarsch, der mir die Nase blutig geschlagen hatte, seine.
Ich stieg vom Bett und reichte Casey seinen Drink.
»Gatorade ist alle, bedaure, Jungs«, sagte ich. »Casey hat den letzten Rest bekommen.«
Ich war im Freudentaumel, als ich sah, wie Casey das Glas kippte.
Dann sagte er: »Gar nicht schlecht.«
Und während er sein Glas Pisswhiskey mit einem zufriedenen pisseglänzenden Grinsen auf den Lippen leerte, wurde die letzte Karte umgedreht. Casey stach uns aus, und Chas und ich flogen beide in genau demselben Moment raus.