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Diese Nacht schrieb Geschichte.
Es machte mir nichts aus zu verlieren, denn ich hatte bereits Triumphe von monumentalen Ausmaßen gefeiert.
Es war wie beim Kinderbaseball: Jeder bekam in dieser Nacht einen Pokal.
Der Adrenalinschub, den es mir verschaffte, dass sowohl Chas als auch Casey meinen abartigen Trieben zum Opfer gefallen waren, hätte beinahe ausgereicht, um die Wirkung des Whiskeys zu neutralisieren, und obwohl ich merkte, dass ich krank war und Fieber hatte, fühlte ich mich, als könnte ich es mit der ganzen Welt aufnehmen.
Am liebsten hätte ich mir JP Tureau vorgeknöpft und ihn zermalmt. Langsam und qualvoll.
Und ich war froh, dass die Whiskeyflasche leer war. Joey hätte um keinen Preis noch einmal an dem urinösen Schnapsglas aus Maxine’s House of Spirits in Atlanta genippt, aber Kevin hatte keine Ahnung, was lief, und insofern war es ein Glück, dass mir dieses moralische Dilemma erspart blieb, denn selbst der Wolfsjunge von Bainbridge Island wollte nicht, dass ein netter Kerl wie Kevin Cantrell erst von einem miesen Schwein in einem Handgemenge abgestochen wird und sich dann auch noch unwissentlich Pisse in den Mund kippt.
Um ein Uhr morgens war das Spiel vorbei, und Casey hatte die hundert Dollar in der Bank gewonnen. Aber sein Sieg war zugleich eine verkappte Niederlage, von der nur Joey und ich etwas wussten (jedenfalls in dem Moment), und es war ein historisches Ereignis, weil zum ersten Mal überhaupt zwei Leute gleichzeitig verloren, was bedeutete, dass Chas und ich die Tortur der Strafe gemeinsam bestehen mussten.
Das war ein durchaus ernüchternder Gedanke, denn der Wolfsjunge in mir begann, sich die grässlichsten und widerlichsten Dinge vorzustellen, die Casey sich für mich und einen, den ich so sehr hasste wie Chas, ausdenken konnte.
Aber Casey war ein blutiger Anfänger, der weder Erfahrung noch Fantasie im Strafenerfinden hatte, und was ihm einfiel, fand ich nicht sonderlich demütigend, auch wenn es einigermaßen riskant klang.
Die Taschenlampe ging aus. Das einzige Licht in unserem Zimmer waren die grauen Quadrate, die der Mond durch die Fensterscheiben auf den Boden warf. Casey warf die fünf Zwanziger neben meine Beine auf das rissige Linoleum.
»Halloweenkostüme«, sagte er.
Aber ich war doch schon als Gandhi-Schrägstrich-Wolfsjunge-von-Bainbridge-Island verkleidet, dachte ich. Das heißt, ich wäre es gewesen, wenn ich meine heruntergefallene Decke im Dunkeln gefunden hätte.
»Was?«, sagte Chas.
»Ich will, dass ihr in der Stadt für uns alle Halloweenkostüme besorgt. Bevor am Morgen die Schule anfängt«, erläuterte Casey.
Ich raffte das Geld zusammen. »Mordsspaß!«, sagte ich.
Ja, ich war echt total bescheuert. »Aber das sind vierzig Kilometer. Da gehen wir ewig«, sagte ich. »Kann ich mir wenigstens vorher was anziehen?«
»Du bist ein Trottel«, sagte Casey.
Ach ja? Du hast meine Pisse getrunken.
Als ich laut loslachte, hielt Joey mir den Mund zu und flüsterte: »Halt fuck noch mal die Klappe, Ryan Dean.«
»Chas hat ein Auto. Ihr müsst euch rausschleichen und sein Auto nehmen. Ist mir egal, wo ihr sie herkriegt, aber ihr müsst am Morgen vor der ersten Stunde mit Kostümen für uns alle wieder da sein«, sagte Casey.
»Das geht nicht«, sagte Joey. »Chas ist zu betrunken, um zu fahren. Das kann tödlich enden.«
Ach, Joey. Immer für andere eintreten, selbst für Idioten wie Chas und Loser wie mich.
»Ich bin nicht zu betrunken«, sagte Chas. (Idiot.)
Ich wusste, ich hätte in der Nacht dafür kämpfen sollen, im Bett zu bleiben. Ich holte eine Trainingshose aus dem Schrank und zog sie an. Sie hatte Löcher. (Loser.)
»Dann fahre ich«, sagte Joey. Er war nüchtern. »Es steht nirgends geschrieben, dass ich nicht mitfahren kann, damit sie keine Scheiße bauen.«
»Und die Dinger müssen was taugen«, sagte Casey.
Ich machte das Fenster auf. Gar nicht daran zu denken, dass ich mich durch die Tür aus dem Haus stahl, solange Mrs Singer im Erdgeschoss wohnte. Ich spürte, dass ihr Ryan-Dean-West-Radar aktiv war.
Ich hatte schon ein Bein über dem Fensterbrett, als Chas sagte: »He, Muschibubi. Meinst du nicht, du solltest Strümpfe und Schuhe anziehen und vielleicht noch ein Hemd?«
Wow. Das Einzige, was der Wolfsjunge anhatte, war eine Trainingshose mit Löchern im Schritt. Kein Wunder, dass ich Gänsehaut hatte.
»Oh.«
»Du bist der abgefuckteste besoffene Penner, den ich je gesehen habe«, sagte Chas.
Leck mich, Pissmaul.