68
Wir schlichen in die Dunkelheit und Kälte hinaus.
Joey ging am See voraus in Richtung Speisesaal, dann bogen wir auf den Weg ab, der zwischen den Häusern verlief.
Ich trug einen schwarzen Kapuzenpullover, der meinen Kopf vor der Kälte schützte, aber meine löchrige, zugige Trainingshose war mir zu kurz geworden und ging mir nicht mal mehr bis zu den Knöcheln, so dass meine Strümpfe aussahen wie hüpfende, lumineszierende … äh … Strümpfe. Oder so.
Als wir an den Häusern vorbeikamen, blickte ich zu den Fenstern im Mädchenhaus hinauf.
»Aaach«, flüsterte ich, »Annie ist dort oben. Und Megan. Und Isabel. Und …«
Ja, ich war im Begriff, sämtliche Mädchen aufzuzählen, die mir einfielen, Hunderte, und alle unglaublich heiß auf ihre eigene Art. Ich malte mir aus, wie sie, alle ganz unterschiedlich zur Nacht gekleidet, eine riesengroße Schlummerparty feierten, auf der der Wolfsjunge von Bainbridge Island der einzige Gast mit XY-Chromosomen war, aber da sagte Chas: »Halt’s Maul, du Depp.«
Wir gelangten unbehelligt zu Chas’ Auto.
Zum Glück achtete niemand groß auf Autos, die sonntagnachts kamen oder fuhren, und rein formell gab es für uns bis zum Morgen ohnehin keine Anwesenheitspflicht.
Doch als Joey die Türen entriegelte, sagte Chas mit Blick auf mich: »Lass den Depp da, Joey. Wir kriegen das alleine erledigt.«
Was mir als verdammt gute Idee erschien, zumal wenn man bedachte, dass Chas darauf gekommen war.
Aber Joey sagte: »Ich fahre nicht, wenn Ryan Dean nicht mitkommt.«
Kacke.
Chas sagte: »Kacke.«
Eine Sekunde lang waren Chas Becker und ich uns vollkommen einig.
Ich machte die hintere Tür auf und kroch hinein. Wenigstens konnte ich auf dem Sitz die Beine ausstrecken. Ich streifte die Schuhe ab. Wenn doch bloß Annie mitkommen könnte! Das wäre der Wahnsinn gewesen.
Ungefähr acht Kilometer vor Bannock, der einzigen Stadt in der Nähe der Pine Mountain, war ich in meiner halb liegenden Position, den Rücken an die Tür gelehnt, gerade kurz vor dem Einschlafen, da griff Chas auf dem Beifahrersitz nach hinten und zog mich so fest am Bein, dass er die Innennaht meiner Hose vom Schritt bis zum Knie komplett aufriss.
Er sagte: »Und jetzt erzählst du mir alles, was zwischen dir und Megan läuft.«
Er musste seit Tagen daran gekaut haben.
Und ich kann nicht behaupten, ich hätte es nicht geahnt.
Ich hatte gesehen, wie Megan und Chas guckten, als sie aus dem Flugzeug kamen. Ich hatte hautnah erlebt, wie Megan mich auf dem Rücksitz just dieses Autos hier heimlich anmachte, als wir nach unserem Wochenende alle zurück ins Internat fuhren. Und ich hatte wahrhaftig immer noch blaue Flecke am Rücken von dem Seifenspender, gegen den Chas mich an dem Tag geknallt hatte, als er Megan dabei erwischte, wie sie im Speisesaal mein Bein rieb.
Doch dies alles zu wissen verringerte den Adrenalinschub der Furcht, der mich durchschoss, kein bisschen.
Der Gedanke, wie schlagfertig ich in solchen Momenten sonst sein konnte, half nicht, ich kam auf nichts anderes, als ihm die Wahrheit zu sagen.
Joey scherzte: »Passt bloß auf, dass ich nicht rechts ranfahre, ihr zwei!«
Chas lockerte seinen Griff nicht.
Er lächelte auch nicht.
Ich schluckte. Ich hatte wieder die Nadeln in der Kehle. Mir brach die Stimme, als ich sagte: »Was willst du wissen, Chas?«
Joey versuchte das Thema zu wechseln. »Ich halte da vorn an der Tankstelle und geh mir einen Kaffee holen. Wollt ihr auch einen?«
»Ja«, sagte ich. »Und ich muss pinkeln.«
»Ich auch«, sagte Joey.
Chas ließ mein Bein los. Joey fuhr an eine Tankstelle mit Minimarkt. Es war ganz still im Wagen, als er den Motor abstellte.
Niemand rührte sich.
Krampfig.
»Wir haben so rumgemacht«, sagte ich.
So. Ich hatte es gesagt. Endlich.
Ich sah, dass Joey angesetzt hatte, die Tür mit der Schulter aufzustoßen, doch er erstarrte, als er mein Geständnis hörte.
Es hallte durch den Wagen wie in einer leeren Kirche. Ich glaube, niemand tat einen Atemzug, als es heraus war. Joey überlegte bestimmt, was er tun sollte, wenn Chas auf den Rücksitz sprang und anfing, mich auf der Stelle zu ermorden.
»Wir haben uns bloß ein paarmal geküsst. Sonst nichts.«
Na ja, tatsächlich war es genau vierundzwanzigmal gewesen, aber ich hielt es für gerechtfertigt, das unbestimmte »ein paarmal« zu gebrauchen, da jede Zahl, die höher war als null, in der Beziehung gleichwertig mit vierundzwanzig war.
Ich sah Joeys Augen im Rückspiegel.
Dann machte Chas etwas, womit kein Mensch jemals gerechnet hätte. Er wandte sich von mir ab und seufzte. Was ich gesagt hatte, schien ihm tatsächlich wehzutun.
»Das hat sie mir gestern auch gesagt«, sagte er. »Ich hab’s nicht geglaubt. Ich dachte, sie will mir nur eine reinwürgen. Wie Megan halt so ist. Warum zum Fuck ziehst du so was mit einem aus deinem eigenen Team ab, Winger?«
»Keine Ahnung.«
Jetzt sag mir einer, warum Jugendliche diese Antwort so oft gebrauchen, vor allem wenn sie sehr wohl eine Ahnung haben? Natürlich wusste ich, warum ich es getan hatte, und Chas genauso, und jeder, der mal einen Blick auf Megan Renshaw geworfen hatte, hätte es auch gewusst.
Dann sagte ich: »Wir haben damit aufgehört.«
Ich zog meine Schuhe an und machte die Tür auf.
»Ich geh pinkeln«, sagte ich.
Ich hörte, wie Joey hinter mir ausstieg. Chas blieb sitzen. Als ich um die Ecke zur Herrentoilette bog, holte Joey mich ein.
»Verdammt, Ryan Dean. Ich glaube, Chas weint«, sagte er.
»Warum bin ich so ein Arsch, Joe?«
»Ich hab dich gewarnt«, sagte Joey. »Willst du einen Kaffee?«
»Ja. Schwarz.«
Joey ging in den Minimarkt, und ich ging auf die Rückseite und pinkelte ins Gebüsch. Herrentoiletten an Tankstellen sind mir zuwider. Vorn traf ich Joey wieder, und er reichte mir zwei Becher mit Papiermanschetten. Ums Handgelenk geschlungen hatte er ein elastisches Schlüsselband.
»Für die Toiletten brauchst du einen Schlüssel«, sagte er.
»Ich hab ins Gebüsch gepinkelt.«
Joey sagte: »Aha. Bin gleich wieder da.«
Er ging um die Ecke, und als ich zurück zum Wagen kam, war Chas fort.