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Nachdem sich Chas seinen Iro zur Bürste gestutzt hatte, zogen wir uns Hemd und Schlips an und gingen ins Sekretariat, um unsere Stundenpläne abzuholen und Passbilder machen zu lassen. Natürlich gingen wir nicht zusammen.
Ich sah meine früheren Zimmergenossen Seanie und JP für ihr Foto anstehen, und es machte mich froh, meine alten Freunde zu sehen, aber auch traurig, weil ich viel lieber weiter mit ihnen zusammengewohnt hätte. In unseren ersten zwei Jahren an der PM hatten wir uns zu dritt ein Gemeinschaftszimmer geteilt.
Im normalen Jungenhaus waren die Gemeinschaftszimmer groß und gemütlich und normalerweise mit zwei oder drei Einzelzimmern verbunden, nicht wie in der O-Hall, wo die Zimmer winzige Zellen mit den gefürchteten Metallstockbetten waren.
Seanie und JP spielten auch Rugby. Wir kamen gut miteinander aus, weil sie ebenfalls keine Stürmer waren. Seanie war Scrum-half, obwohl er echt lang und dünn war, aber er warf Hammerpässe und hatte todsichere Hände, und JP spielte als Fullback auf der Position, die normalerweise derjenige im Team bekommt, der in jeder Beziehung am fittesten und frechsten ist und die höchste Schmerztoleranz hat. In diesem Jahr sollten beide in die Schulauswahl aufsteigen, da ungefähr die Hälfte der Stammspieler vom vorigen Jahr abgegangen waren.
Eine der Sachen beim Rugby ist, dass man singen muss, das ist ein fester Brauch, vor dem sich niemand im Team drücken kann, und außerdem bekommt jeder einen Spitznamen. Das wird nicht geplant oder vorher überlegt, es passiert einfach. So wie Lachse stromaufwärts schwimmen oder wie das Universum sich ausdehnt … oder sich zusammenzieht … irgendwas, keine Ahnung. Aber wenn irgendwann jemand auf einen Spitznamen für dich verfällt, dann behältst du den.
Für immer und ewig.
Ganz egal also, was einmal aus mir wurde, für die Jungs im Team würde ich zeitlebens Winger heißen. JPs Spitzname war Sartre. Sein richtiger Name war John-Paul, und als ich anfing, ihn Sartre zu nennen, blieb der Name natürlich hängen, obwohl die meisten im Team ihn nicht kapierten und sich einfach dachten, da ich so gescheit war, würde er wahrscheinlich irgendwas Ultraperverses auf Französisch bedeuten (was ich mit Andeutungen unterstützte). Seanie hatte Glück. Er kriegte den unverfänglichsten Spitznamen überhaupt ab; sein richtiger Name war Sean.
Chas Beckers Spitzname war Betch, eine nicht ganz zufällige Zusammenziehung von »Becker« und dem Wort, das im Englischen »Hündin« bedeutet und noch ein paar andere Sachen mehr und das die Wenigsten Chas ins Gesicht gesagt hätten.
Aber wenn ein Rugbyteam sich deinen Spitznamen einmal ins Hirn tätowiert hat, ist daran nicht mehr zu rütteln. Du musst dich einfach damit abfinden und gute Miene dazu machen.
»Der Winger lebt noch«, sagte Seanie, als wir uns die Hand gaben.
»Gott, Seanie. Was hast du so getrieben?«
»Nichts. Ich hab vom ersten Ferientag an zweieinhalb Monate ununterbrochen Videospiele gespielt. Heute ist das erste Mal seit Juni, dass ich den Himmel sehe. Es ist so hell, ich glaube, ich kriege gleich einen Anfall.«
Seanie war ein Nerd, und ich glaubte ihm voll, dass das stimmte.
»Sie haben uns noch keinen Neuen ins Zimmer gelegt«, sagte JP. »Vielleicht ist das ja ein gutes Zeichen und heißt, dass du bald zurückdarfst. Wie ist die O-Hall denn so?«
Ich hätte fast gesagt: Die Klos riechen super!
Aber ich ließ es.
»Ich teile mir ein Stockbett mit Betch.«
Ich sah einen entsetzten Mitleidsblick über die Gesichter meiner Freunde huschen.
»Er wird ein Arschloch aus dir machen«, sagte JP.
»Oder dich umbringen«, fügte Seanie hinzu. »Aus dem Kackloch kommst du nie wieder raus.«
Wir rückten in der Schlange vor der Fotografenkabine mit dem rhythmisch aufleuchtenden Blitzlicht einen Schritt vor. Jeder von uns hielt einen Stundenplan in der Hand. Nach dem Fototermin hatten wir den restlichen Tag frei und konnten den letzten Momenten unseres unstrukturierten Sommers nachtrauern.
»Er hat komischerweise was gemacht, was ganz nett war«, sagte ich. »Er hat mich eingeladen, heute Abend nach Lichtaus mit ihm und ein paar andern Poker zu spielen.«
»Winger, der wird dich in dem Jahr noch richtig in die Scheiße reiten, mach dir das klar«, sagte JP.
Und Seanie ergänzte: »Was denkst du wohl, warum so viele von der Stammmannschaft Dauergäste in der O-Hall sind? Und über diese Spiele wissen alle Bescheid. Nimm dich bloß in acht vor der Strafe.«
Der Erste, der rausflog, kriegte von den andern eine Aufgabe gestellt, in der Regel harmloses, peinliches Zeug. Das war die Strafe. Einmal musste Joey Cosentino mitten in der Nacht nackt um das Rugbyfeld rennen, und als er sich wieder ins Zimmer stahl, musste er es gleich noch mal machen, weil er versehentlich gegen den Uhrzeigersinn gelaufen war, und das ging gar nicht. Einmal musste Kevin Cantrell in Boxershorts über den Pine Mountain Lake schwimmen (ebenfalls mitten in der Nacht). Die Strafe musste natürlich immer nachts ausgeführt werden, denn allein schon mit Pokern nach Lichtaus konnte man sich reichlich Ärger einhandeln. Wenn man sich von jemand Schulischem bei der Ausführung der Strafe erwischen ließ, kam es bestimmt noch viel dicker.
Aber ich hielt mich für einen ziemlich guten Pokerspieler, deshalb machte ich mir über die Strafe keine allzu großen Sorgen. Kein Stress.
Nachdem wir fotografiert worden waren und der Apparat uns frische, chemisch riechende laminierte Schülerausweise in die Hände gespuckt hatte, verabredeten wir, uns beim Abendessen wieder zu treffen. JP und Seanie gingen fertig auspacken und zogen in die eine Richtung ab, während ich traurig die andere einschlug und sie um ihren Start in unser elftes Schuljahr in dem schönen Zimmer beneidete, in dem ich auch mal gewohnt hatte.
Obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, in diesem Jahr anders zu sein, nicht klein und schwach und voll Selbstmitleid, fühlte ich mich schon jetzt so, wo ich allein den schmalen, malerischen Fußweg am See zur Opportunity Hall zurückschlenderte, dem leckenden, maroden und abseits gelegenen einstöckigen Holzbau, der früher mal das einzige Wohngebäude auf dem ganzen Campus gewesen war.
»He! West! Schon alles erledigt?«
Annie kam auf dem Weg hinter mir hergelaufen.
Sie nannte mich West. Ich fand, das hatte was. Niemand sonst nannte mich so.
Ich blieb stehen und drehte mich um und hielt verstohlen den Atem an, damit ich es voll auf mich wirken lassen konnte, wie Annie Altman auf mich zukam wie in einem Film, in dem sie sich mir wahrhaftig in die Arme werfen wollte oder so.
Zur Antwort auf ihre Frage hielt ich Stundenplan und Schülerausweis hoch.
»Wie ist es gegangen? Heute Morgen mit Chas?«
»Keine Verletzung bis jetzt«, sagte ich. »Ich hatte auch keinen Schiss. Er war halbwegs freundlich, auf so eine bissige und raubtiermäßige Art.«
»Als Gegenleistung spekuliert er wahrscheinlich darauf, dass du häufig für eine halbe Stunde verschwindest, damit er mit Megan Sex haben kann«, sagte sie.
Megan Renshaw war Chas’ Freundin.
Ebenfalls superheiß.
»Oder auf mein Geld. Wir wollen heute Nacht Poker spielen.«
Annie Altman sprach in scheltendem Tonfall weiter. Ich muss zugeben, dass ich Fantasien hatte, in denen Annie vorkam. Scheltend. »Der erste Schultag hat noch gar nicht angefangen, und schon machst du irgendeinen Schwachsinn, mit dem du dir Ärger einhandeln kannst.«
Wir gingen in Richtung O-Hall.
»Stimmt genau.«
Ich schluckte an dem trockenen, haarigen Tennisball in meiner Kehle.
Annie hatte so eine Wirkung auf mich.
Vor allem wenn sie den scheltenden Tonfall anschlug.
Ich guckte beim Gehen auf meine Füße.
Landschaftlich war es hier ziemlich schön, vor allem mit Annie an meiner Seite. Der See war ungefähr zweieinhalb Kilometer lang, achthundert Meter breit und umgeben von hohen Kiefern, die wie eine Armee von Riesen bis ganz zu den Gipfeln der umliegenden Berge hinauf standen.
Natürlich war Annie im Mädchenhaus untergebracht, das in der Nähe des Speisesaals, der Unterrichts- und Verwaltungsgebäude, des Sportgeländes und des Jungenhauses lag. Zur abgeschiedenen O-Hall ging man ein gutes Stück in der Gegenrichtung am See entlang.
Im Obergeschoss der O-Hall wohnten die Jungen, das Erdgeschoss war den Mädchen vorbehalten. Aber da Mädchen nun mal Mädchen sind, logierte so gut wie nie jemand dort. Es war im Moment makellos sauber und nicht bewohnt außer von der zuständigen Erzieherin, einer abschreckenden alten Mumie namens Mrs Singer.
»Und, was für Kurse hast du in diesem Halbjahr, West?«
Annie und ich setzten uns auf eine gusseiserne Bank mit Blick auf den See und tauschten Stundenpläne aus. Ich schaute auf ihren Schülerausweis. Ihr Bild war so was von strahlend, dass es mir förmlich die Augen ansengte. Sie hatte dieses typische Annielächeln, ganz leise und mit geschlossenen Lippen, als wüsste sie irgendwas Peinliches über den Fotografen. Und wie sie mit ihren dunkelblauen Augen unter den perfekten schwarzen Augenbrauen und den in die Stirn hängenden Haaren direkt geradeaus schaute, wirkte sie unheimlich selbstbewusst. Ich konnte nie sagen, ob sie geschminkt war, ihre Haut und ihre Lippen sahen immer ganz makellos aus, wie Annie halt.
»West. Du glotzt bloß auf meinen Ausweis. Der Stundenplan ist darunter.«
»Oh, Verzeihung. Nettes Bild, Annie.«
Ich sah, wie ihr Daumen über meinen Ausweis strich. Auf dem Bild guckte ein Milchgesicht beschlipst und belämmert durch die Laminierung, Segelohren, Mund halb geöffnet zu einem eher mutlosen Lächeln, kurze straßenköterblonde Haare, die sich nie legen wollten, und diese käsige Haut, die aussah, als würde ihr nie im Leben auch nur das zarteste Fläumchen entsprießen.
»Ooch«, sagte sie. »So ein süßer Junge.«
Okay, ich will ehrlich sein. Tatsächlich sagte sie, glaube ich, »kleiner Junge«, aber das zu hören war wohl so traumatisch, dass ich es nicht wahrhaben wollte.
Genauso gut hätte sie mir voll in die Eier treten können.
Ich bin voll der Loser.
Ich hatte zweimal Sport – am Vormittag Konditionstraining und am Ende des Tages Mannschaftssport –, aber wenigstens eine Stunde hatten Annie und ich gemeinsam, Amerikanische Literatur, kurz vor der Mittagspause. Annie machte im Herbst Geländelauf in Sport und im Frühjahr Sprint. Die Rugbysaison fing im November an, und da sie erst im Mai endete, ging das Mannschaftstraining das ganze Schuljahr.
»Cool. Wir haben Literatur zusammen«, sagte ich. »Ich geh dann mal.«
Ich stand abrupt auf und reichte Annie ihre Papiere.
»Bist du sauer, West, oder was?«
»Nein. Ich muss meinen Kram auspacken gehen, sonst steigt mir Farrow aufs Dach. So geht’s in der O-Hall«, log ich.
»Wenn du meinst, dass du nichts hast«, sagte sie. Sie stand auf.
»Na klar.«
Ich ließ mir von ihr meinen Stundenplan und meinen Schülerausweis geben und machte mich auf den Weg in mein neues Quartier.
»He«, sagte sie, »ich gehe vor dem Abendessen noch eine Runde laufen. Willst du mitkommen?«
»Geht nicht«, sagte ich.
Und ohne mich noch einmal umzudrehen, schritt ich schnurstracks auf den Eingang der O-Hall zu.
Kleiner Junge.
Was für eine gequirlte Kacke.