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Aber ich verpasste Annie beim Frühstück, und um es gerade noch rechtzeitig zum Konditionstraining zu schaffen, musste ich den ganzen Weg von der O-Hall zur Sportanlage im Laufschritt zurücklegen und dabei versuchen, mir mit zitternden Händen einen Schlips umzubinden.
Ich war fix und fertig.
Durch diesen Tag zu kommen fühlte sich ungefähr so an, als müsste ich mit zwei Bowlingkugeln durch ein Becken voll warmer Mayonnaise schwimmen.
Ich sagte mir immer wieder, du schaffst es, aber es war ein hartes Stück Arbeit, den müden und kranken Ryan Dean West davon zu überzeugen.
Ich hatte mir fest vorgenommen, Seanie nicht das Geringste darüber zu erzählen, was ich in der Nacht getan hatte. So toll die Geschichte war, ich musste alles unter Verschluss halten – dass ich mich schon wieder betrunken und dass ich Chas und Casey meine Pisse zu trinken gegeben hatte, dazu die Fahrt nach Bannock und wie Chas geweint hatte und weggelaufen war, als er erfuhr, dass ich mit seiner Freundin rumgemacht hatte, die Sache, dass Casey schwul war und Joey anbaggerte, die Besorgung der Halloweenkostüme und natürlich die Sache mit dem verrückten Ned Schreihals –, das alles musste ich unter Verschluss halten und hoffen, dass ich dabei nicht platzte. Denn das meiste davon wollte ich auf gar keinen Fall auf irgendeiner neuen perversen Website unseres abnormen Scrum-half vor aller Welt ausgebreitet sehen.
Ich musste im Konditionstraining in normalen Turnschuhen laufen, weil ich meine Laufschuhe am Tag zuvor auf Bainbridge Island entsorgt hatte. Gott! Ich konnte es nicht glauben, dass erst vierundzwanzig Stunden vergangen waren, seit ich mir bei diesem Lauf mit Annie im Regen die Kleider vom Leib gerissen hatte. Hoffentlich hatte meine Mutter dafür gesorgt, dass die neuen Schuhe am Nachmittag kamen, auch wenn sie wahrscheinlich immer noch flennte, weil ich erwachsen wurde, größer wurde, Sex hatte und was sie sich sonst noch für Vorstellungen über mich machte, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatten.
Wir wurden auf die Fünf-Kilometer-Strecke um den See geschickt, und diesmal beschloss ich, mich an Seanie und JP zu halten. Ich wollte auf keinen Fall, dass JP sich jetzt auch noch zwischen mich und Seanie drängte. Sie beide waren Zimmergenossen und wir beide hassten uns, aber mit Seanie Flaherty wollte ich auf jeden Fall befreundet bleiben.
In einer Dreierreihe mit Seanie in der Mitte liefen wir langsam hinter den anderen her. Es hörte auf zu regnen, und unsere Beine waren bis zu den Schenkeln mit Schlamm bespritzt. Ich dachte mir, wenn ich die ganze Strecke mit Seanie redete, selbst dummes Zeug, würde das JP zum Schweigen verdammen und ihn gleichzeitig wütend machen.
»He, du Sack, habt ihr gestern Nacht wieder Karten gespielt?«, fragte Seanie.
»Ja.«
»Und, hast du gewonnen? Hast du verloren? Hast du dich betrunken? Was war?«
»Wird nicht verraten, Seanie.«
»Alter, eines Tages fliegt ihr alle wegen diesem Scheiß von der Schule.«
»Pff. Echt hartes Schicksal, aus der O-Hall zu fliegen«, sagte ich. »Casey Palmer hat mitgespielt.«
Wenn man sich vor einem Gespräch fest vorgenommen hat, ja nichts über X zu sagen, dann wird der Mund fast automatisch alles Mögliche über X ausspucken, bevor man ihn daran hindern kann – ist euch das schon mal aufgefallen? Und prompt merkte ich, wie mein blöder, verkaterter Kirsch-Menthol-Mund losplappern wollte: »Und Casey Palmer ist schwul und hört nicht auf, Joey nachzustellen«, aber ich konnte mich gerade noch bremsen und sagte: »Und Casey Palmer ist … Sieger geworden.«
»Warum habt ihr mit diesem Arschloch gespielt?«
Ich zuckte die Achseln.
Halt die Klappe, Ryan Dean!
»Ach, übrigens«, sagte Seanie, »hab ich dir das schon erzählt? Ich gehe mit Isabel zum Ball.«
»Schick«, sagte ich. Warum zum Teufel musste er das Thema aufbringen? »Isabel ist heiß.«
Falls man auf Mädchen mit zarter Schnurrbehaarung steht.
»Du findest jedes Mädchen heiß. Bist du denn am Wochenende bei Annie zu Hause nicht ein bisschen was von deinem angestauten Sexfrust losgeworden?«
Pustekuchen, durch das Wochenende ist es höchstens noch schlimmer geworden.
Ich seufzte bei der Vorstellung, wie Annie und ich an dieser bemalten Wand im Sägewerk geklebt hatten. Dann rieb ich JP eine rein.
»Na klar bin ich das.«
Seanie klatschte mich ab.
Aber mehr gedachte ich nicht zu sagen, denn wenn ich erzählt hätte, wie ich mit ihr im Whirlpool gefüßelt oder im Sägewerk und am Flughafen rumgemacht hatte oder wie sie mich an beiden Morgen weckte – Gott, allein der Gedanke trieb mich zum Wahnsinn! –, dann wären sie einer wie der andere mit Sicherheit schnurstracks zu Annie gegangen und hätten es ihr gepetzt.
Ich hustete.
Seanie sagte: »Ich hab Annie heute Morgen gesehen. Sie sagt, du hättest dich erkältet, weil du nackt im Regen durch den Wald gelaufen bist. Hast du das echt gemacht?«
(Na ja, ich war nicht völlig nackt, aber ich wollte JP noch eine vor den Latz knallen.)
Ich lachte. »Na klar.«
»Meine Fresse.«
»Ich komme heute nicht zum Training«, sagte ich. »Ich kriege am Nachmittag die Fäden gezogen.«
Ich merkte, wie JP um Seanie herum zu mir herüberlugte.
Seanie sagte: »Geh extra dreckig hin, vielleicht rubbelt dich diese heiße Krankenschwester dann wieder mit dem Schwamm ab.«
»Pech gehabt, Doktor Bloßhand will noch mal meine Nüsse untersuchen.«
»Sag ihm, dafür muss er nur auf Casey Palmers Website gucken.« Seanie lachte.
»Jaja, sehr witzig, Seanie. Ich hab davon gehört. Leider hat er meine im wirklichen Leben gesehen, deshalb wüsste er, dass diese Mickerdinger auf deinem Bild zu klein sind und folglich nur Sean Russell Flaherty gehören können.« Ich schubste ihn, und er wäre um ein Haar mit JP zusammengerumpelt.
»Autsch. Nicht so doll«, sagte Seanie.
»Pass auf, du Fucker!« JP wäre beinahe gestolpert, als er Seanie auswich. Ich hatte keinen Zweifel, dass er jetzt auf mich sauer war.
Ich war mir ziemlich sicher, dass die ganze Klasse inzwischen an uns vorbeigezogen war, denn sie kamen uns schon alle vom Wendepunkt entgegen. Ich blieb stehen, verschränkte die Hände auf dem Kopf und warf JP einen bösen Blick zu.
Ich gebe es zu. Mir war danach, mich mit ihm zu schlagen.
»Ist was?«, sagte ich zu ihm.
»Du hättest Seanie beinahe auf mich draufgeschubst«, sagte JP. »Fick dich, Ryan Dean. Ich weiß, worauf du es anlegst.«
Ich behielt die Hände auf dem Kopf, aber trat dicht an ihn heran. Das war dämlich, ich weiß. JP konnte mir den Kopf abreißen. Er war über zehn Zentimeter größer. Und es stimmt, ich fluchte. Aber in so einer Situation bleibt einem nichts anderes übrig.
»Nein, fick du dich, JP.« Ich weiß. Nicht der Gipfel der Schlagfertigkeit. Dann sagte ich: »Was bildest du dir eigentlich ein, dass du mit Annie zum Ball gehen willst? Gibt es hier nicht genug Mädchen, die mit dir gehen würden? Musstest du wirklich einem ans Bein pinkeln, der mal dein Freund war?«
Ich wollte das schon seit ungefähr einer Woche loswerden, und es war echt ein gutes Gefühl. Wie es auch ein gutes Gefühl sein würde, diese Fäden loszuwerden, dachte ich. Sofern ich am Nachmittag noch am Leben war.
Seanie sagte: »He, jetzt mal sachte! Hört auf! Kommt, lasst uns weiterlaufen!«
Zu spät. Ich ließ die Hände vor die Brust sinken und schubste JP an den Rand des Wassers.
Er ging augenblicklich zum Angriff über und holte zu einem mordsmäßigen Hieb mit der Rechten aus, aber der Fuß glitschte ihm im Schlamm weg, und der Schlag, der mich wahrscheinlich ausgeknockt hätte, erwischte mich nur links am Brustkorb. Auch das tat schon ziemlich weh. Bestimmt war eine Rippe gebrochen. Aber ich ging mit JPs Schlag mit und knallte ihm eine rechte Gerade direkt auf die Nase.
JPs Kopf flog zurück, und rotes Blut spritzte unter meinen Knöcheln hervor, während er das Gleichgewicht verlor und rückwärts hinfiel, direkt in das schmutzige Flachwasser am Seeufer.
Auf der Ryan-Dean-West-Befriedigungsskala war das zweifellos eine der schönsten körperlichen Empfindungen meines ganzen armseligen Lebens. Bei näherem Nachdenken rangierte das Lustgefühl, diesen Dreckskerl zu schlagen, sogar unter den Top drei:
Und zu sehen und zu hören, wie er in das kalte schwarze Dreckwasser platschte, war beinahe so lustvoll, wie ihn zu schlagen. Pech nur, dass er gleich wieder aufspringen würde.
»Was soll der Fuck? Spinnt ihr?« Und bevor ich es mich versah, holte Seanie, ganz gewiss nicht für sein tolles Tackling berühmt, mich mit einem Hechtsprung von den Beinen. Er schlang die Hände in den Kragen meines Sweatshirts und drückte meine Schultern in den Schlamm. »Was soll der Fuck, Ryan Dean?«
Ich dachte schon, Seanie würde zuschlagen. Seit ich ihn kannte, hatte ich Seanie noch nie so todernst oder wütend erlebt. Auf den Boden gepresst sah ich, wie JP aus dem See gestolpert kam. Er war nass und schmutzig, und das Blut lief ihm in einem mundbreiten Streifen von der Nase übers Hemd bis zum Hosenbund. Er kam an Seanies Seite und trat nach mir, aber Seanie warf sich dazwischen und fing die Wucht des Trittes mit seinem eigenen Schlüsselbein ab.
»Hört auf, ihr verfickten Arschlöcher!«, brüllte Seanie.
Der Tritt hatte ihm wehgetan, und ich fühlte mich mies, dass er ihn an meiner Stelle eingesteckt hatte.
Seanie schrie uns an: »Ihr fliegt aus dem Team! Ihr fliegt von der Schule, ihr Ärsche!«
Als JP begriff, dass er Seanie getreten hatte, wich er zurück, drehte sich um und zog sich das Hemd aus der Hose, um damit das Blut zu stoppen, das ihm aus der Nase floss.
Seanie ging von mir runter, und ich stand auf, aber er blieb zwischen mir und JP stehen, der sich mit dem Rücken zu mir vorbeugte.
»Okay, Seanie«, sagte ich. »Okay. Tut mir leid, Seanie. Ich wollte dich nicht mit reinziehen. Ich bin ein kompletter Vollidiot.«
Ja, ich war wütend.
Dann drehte ich mich um und lief zur Umkleide zurück.