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Es war richtig angenehm, in der stillen O-Hall zu sein. Alle Jungen waren entweder beim Rugby- oder beim Footballtraining.

Ich lachte bei dem Gedanken, dass Casey Palmer schwul war. Andererseits fand ich es durchaus nicht lächerlich, dass Joey schwul war. Das lag wohl daran, dass Casey sexuell so ein Poser war. Aber das waren wahrscheinlich viele Jungen. Keine Ahnung.

Als ich ins Zimmer kam, lag wieder ein Päckchen auf meinem Bett. Auf meine Mom war Verlass. Ich hatte allerdings gewisse Skrupel, die Schachtel aufzumachen, denn an dem Punkt wusste ich nicht, was ich von ihr zu erwarten hatte.

Schick.

Sie hatte die Nikes Größe zehneinhalb geschickt, um die ich gebeten hatte, und sie hatte noch eine Dose Rasiercreme, einen Rasierer und Chanel Aftershave dazugepackt. Ich vermute, sie hatte mit mütterlicher Intuition das eine Barthaar an meinem Kinn geahnt. Ich fand darin auch eine Karteikarte. Auf der einen Seite stand von meiner Mutter:

Ryan Dean,

ich hoffe, ich erkenne dich noch wieder, wenn ich dich das nächste Mal sehe.

Ich liebe dich, und du fehlst mir.

– Mom

Und auf der andern Seite in der Handschrift meines Dad:

Sohnemann,

du wirst erwachsen. Ich weiß, du hast mir so oft dabei zugeschaut, dass du dir nicht mit der Klinge das Gesicht verkacken wirst (Mom wäre sonst bestimmt angepisst, weil ich dir kein Buch über »Das erste Mal Rasieren« schicke). Ha ha.

Alles Liebe,

Dad

Ja, mein Dad drückt sich so aus.

Also duschte ich, und ich rasierte mich sogar und rieb mir ein bisschen Rasierwasser auf die Wangen. Ich gelte meine Haare. Ach, und ich wechselte auch den Pokémon-Slip und stellte dabei fest, dass in der Tat viel dafür spricht, dort unten »mehr Platz« zu haben, wie Doktor Bloßhand gemeint hatte, aber ich hatte dennoch vor, ihn an Halloween unter dem Lendenschurz des Wolfsjungen von Bainbridge Island zu tragen, Platz hin oder her, einfach damit alles, äh … wohlverstaut war.

Ich zog die brandneuen Nikes an und suchte mir unter meinen Rugbysachen den schicksten schwarz-blauen Trainingsanzug aus, dann begab ich mich nach unten, bevor die andern vom Sport zurück waren.

Doch im Treppenhaus hatte ich eine Begegnung, die viel schlimmer war als Doktor Bloßhands Sackuntersuchung und Pubertätsängsteblabla, sofern es etwas dermaßen Trostloses überhaupt geben konnte.

Als ich die Tür der Jungenetage öffnete, stieß ich auf Mr Farrow und die abartig unheiße Hexe von unten, Mrs Singer.

Zusammen.

Sie standen draußen vor der unbewohnten Mädchenetage. Sie küssten sich, und der Kuss war ganz gewiss keiner von diesen unschuldigen »Ach, hallo, wie geht’s heute so, du eisgraue aasige Schreckschraube von unten«-Bussis auf die Wange. Er war ein einziges geräuschvolles Schlecken und Stöhnen, und Mrs Singer trug nur einen Morgenrock, und mir brennen jetzt noch die Augen bei dem Geständnis, dass ich das bemerkte, aber sie hatte darunter nichts an, und es sengt mir bis auf den Grund der Seele, das zuzugeben, aber ich wusste, sie hatten gerade Sex gehabt.

Oder so.

Ich glaube, ich schrie.

Wie Ned.

Okay, ich will ehrlich sein. Ich schrie nicht, aber warum auch immer, beide peilten mich augenblicklich an, wie ich dort über ihnen stand.

»Oh. Äh … Ryan Dean!«, sagte Mr Farrow, während er sich von der Kreatur abstieß und sich betont beiläufig mit zitternder Hand durch die frisch sexzerzausten Haare fuhr. Ich bemerkte den frischen Speichelglanz in einem Mundwinkel, und seine Brille saß schief.

Anscheinend hatte ihnen niemand mitgeteilt, dass Ryan Dean West an dem Tag einen Arzttermin hatte und früher zurückkommen würde, und … na ja, das gehört eigentlich nicht zum Thema, aber ich war immer total überzeugt, dass Mr Farrow stockschwul war.

Kaum zu glauben.

Ich nehme an, er stand auf Leichen und Verfall und nicht nur auf Jungen.

Dann blickte Mrs Singer zu mir hinauf, aber ich war zu gerissen für sie. Ich hielt den Blick eisern auf den Boden geheftet, bis sie ging und ich die Tür hinter ihr zuklappen hörte. Jetzt war ich mit Mr Farrow allein.

Superkrampfig.

Ich hätte beinahe gelacht. Ich fragte mich, ob seine Mom ihm wohl eine Broschüre über »das erste Mal mit einer aasigen Höllenhexe« geschickt hatte.

Farrow kam die Stufen herauf.

Es gab kein Entkommen.

»Hast du heute das Training geschwänzt, Ryan Dean?«, fragte er. Und er ging und redete ganz ruhig und langsam, wie ein Mörder. Ein Mörder, der gerade mit einer aasigen Höllenhexe Sex gehabt hatte.

Ich deutete auf mein Auge.

»Ich war beim Arzt. Hab heute die Fäden gezogen bekommen.«

»Ach so.« Er beugte sich vor. Das wäre nicht nötig gewesen, er hätte es auch so bestens erkennen können. Er roch nach Schweiß. »Sieht gut aus.«

»Danke. Also dann. Äh. Tschüs.«

Ich wollte an ihm vorbeischlüpfen.

»Ryan Dean.«

Ich erstarrte.

»Bitte sag zu niemandem etwas darüber.«

Der gruselige Spruch eines Kinderschänders.

Mr Farrow fuhr fort: »Ich kann dich beim nächsten Zwischenzeugnis ins Jungenhaus zurückverlegen lassen. In zwei Wochen.«

Ich sagte nichts. Die Tür zum Vorraum ging auf, und Joey und Kevin kamen herein.

»He«, sagte Joey. Er blieb stehen und sah mich an, dann klatschte er mich ab. Nicht rekordverdächtig, aber ganz ordentlich. »Saubere Narbe. Und krass, Ryan Dean, du siehst aus, als wärst du seit gestern fünf Zentimeter gewachsen.« Er lachte. »Mir klingen immer noch die Ohren von Ned Schreihals.«

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»Das war beinahe das Schlimmste, was ich je erlebt habe«, sagte ich.

Aber, dachte ich, nicht annähernd so schlimm wie das, was ich hier gerade gesehen hatte.

»He«, sagte Kevin. Er hatte einen Rugbyball in seiner Schlinge stecken. »Schicke Frisur, Winger. Lass mich raten … Annie?« Und Kevin hielt schnuppernd die Nase an mein Gesicht und sagte: »Oooooh.«

Ich sagte: »Genau«, und sie gingen weiter die Treppe hinauf.

Ich senkte die Stimme. »Ich weiß gar nicht, was Sie meinen, Mr Farrow. Ich wüsste nicht, was ich jemand sagen soll.«

Da nickte Mr Farrow, als hätten wir eine Abmachung getroffen. Hatten wir aber gar nicht. Denn ich überlegte sofort. Klar, ich konnte Chas Becker nicht leiden. Ich hasste ihn regelrecht. Und einige der andern in der O-Hall waren die totalen Deppen, und der Gemeinschaftswaschraum war immer stressig und voll, und Stockbetten sind was fürs Gefängnis.

Aber ich wusste, dass ich nicht ins Jungenhaus zurückkehren konnte.

»Bitte verlegen Sie mich nicht zurück, Mr Farrow«, sagte ich. »Da würde ich nur Schwierigkeiten kriegen. Wenn ich wieder in mein altes Zimmer käme, würde ich gleich am ersten Tag von der Schule fliegen, und ich werde nicht sagen, warum, aber Sie müssen mir glauben. Bitte!«

Und dabei, na klar, schnitt ich das »Denk an Pinkeln!«-Gesicht.

»Also gut«, sagte er.

Die Tür ging auf. Casey und Chas kamen die Treppe herauf. Chas sagte gerade zu Casey etwas von wegen »sie heult schon den ganzen Tag, krass«, aber ich vermied es, sie anzusehen.

Ich wusste auch so, wen er meinte.

Was Chas wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass er seinen Liebeskummer vor einem Schwulen ausbreitete, der ernsthaft heiß war auf den Fly-half in unserem Rugbyteam?

Ich ging an ihnen vorbei nach unten. Als ich über die Schulter schaute, war Mr Farrow fort und das Treppenhaus leer.

Am Fuß der Treppe sah ich, wie Mrs Singer mich durch das Fenster in der Tür zur Mädchenetage beobachtete. Dann drehte sie sich um, und das Fenster war leer. Mir schauderte richtig. Kurz vor dem Hinausgehen blieb ich stehen und lehnte mich an die Mädchentür.

»Ich heiße Ryan Dean West«, sagte ich.

Mir brach die Stimme. Loser. »Ich bin der Junge, den Sie in der Nacht vor dem ersten Schultag hier unten im Waschraum erwischt haben. Ich wollte mich nur entschuldigen und Sie bitten, dass Sie aufhören, diese ganzen grässlichen Sachen mit mir zu machen.«

Die Tür ging einen Spaltbreit auf, und ich sah einen kleinen Ausschnitt ihres Ned-Schreihals-nach-der-Rasur-mäßig unheißen Gesichts. Mrs Singer sagte: »Ich werde dich braten und an Halloween verspeisen, Ryan Dean West.«

Da lief ich fort.

Okay. Um ganz ehrlich zu sein, sagte sie wahrscheinlich: »Schön, dich kennenzulernen, Ryan Dean West«, aber ich hatte mit der Entschuldigung meine Pflicht getan und dachte gar nicht daran, länger zu bleiben und mir von ihr die Seele weglecken, einen Schwall Eissplitter in den Schlitz der Boxershorts kippen, Durchfall und plötzliches Nasenbluten anhexen oder die noch unerprobten Fortpflanzungsorgane mit sonst einer unchristlichen Verwünschung belegen zu lassen.