80
Annie war schon da, als ich in Stonehenge ankam.
Sie schritt die Spirale des Wunschweges ab, und ich blieb am Waldrand stehen und beobachtete sie.
»Die Schwester meint, ich soll dir ausrichten, dass ich das Sexy nicht verloren habe. Sie sagt, dafür habe ich viel zu viel davon am Laufen.«
Sie sah mich an und lachte.
»Lass mal schauen«, sagte sie.
Hmmm … ein anderer Ryan Dean West hätte darauf zweifellos eine perverse Erwiderung gegeben, aber irgendwie war mir in dem Moment nicht danach zu Mute.
Sie kam auf mich zu und musterte mich dabei von Kopf bis Fuß, ich aber beobachtete nur ihr Gesicht. Ich beugte mich vor.
Spiel läuft, Annie.
Sie legte den Daumen auf die kleine Narbe.
»Und?«, fragte ich.
»Okay«, sagte sie. »Du siehst gut aus in dem Trainingsanzug und mit den gegelten Haaren, Ryan Dean. Du wirkst größer.«
Da erst bemerkte ich, dass Annie völlig aufgehört hatte, mich West zu nennen. Das musste etwas zu bedeuten haben. Es gefiel mir.
»Du bist schon der Zweite, der mir das sagt, Annie. Ich denke, ich werde dich und deine Mom bitten müssen, mir noch mal die Hosenbeine zu verlängern.«
»Magst du denn noch mal mit zu mir kommen?«
»O mein Gott, Annie, ich würde sofort los, wenn ich könnte. Ich würde zu Fuß gehen.«
Annie sagte: »Vielleicht kannst du ja an Thanksgiving die ganzen vier Tage kommen.«
»Das wäre irre«, sagte ich, obwohl ich wusste, dass meine Eltern traurig wären, wenn ich nicht nach Hause kam. Ich nahm ihre Hand, denn es fing wieder an zu regnen, und wir stellten uns unter die Bäume, wo der Regen nicht durchkam.
»Was hast du dir gerade gewünscht?«, sagte ich.
»Wird nicht verraten.«
»Okay.« Ich atmete tief ein. Auf dem Weg hierher hatte ich mir überlegt, dass ich ihr etwas beichten musste. Es war wichtig, und ich wusste, dass ich aufhören musste, mich zu verhalten wie so ein … äh, Wolfsjunge.
»Ich muss dir was sagen, Annie. Ich und JP haben uns heute schon wieder geschlagen. Deshalb hatte er das blaue Auge. Der Schlag war von mir. Es tut mir leid. Ich werde es nicht wieder tun. Ich möchte nicht, dass du mir deswegen böse bist, deswegen wollte ich es dir lieber sagen, bevor du es von Seanie oder sonst jemand hörst. Ich weiß nicht, warum ich mich so bescheuert verhalte.«
Annie seufzte. »Ryan Dean.«
»Ich weiß. Tut mir leid. Und ich habe auch beschlossen, dass ich mich nicht mehr so anstellen werde, nur weil du mit ihm zum Ball gehst. Ich werde es einfach ausblenden müssen. Tut mir echt leid, Annie. Verzeihst du mir, dass ich so ein Knallkopf bin?«
Sie stand so dicht vor mir, dass wir uns praktisch berührten. Wir blickten uns einfach in die Augen, und ich wusste, wir würden uns küssen, doch sie wich zurück und sagte: »Ich kann nicht in dich verliebt sein, Ryan Dean.«
So. Das hatte ich schon mal gehört. Und diesmal wollte ich mich nicht wie ein Baby benehmen und weglaufen. Ich sagte einfach: »Doch, kannst du.«
Lange Zeit war es, als gäbe es überhaupt kein anderes Geräusch als das Tropfen des Regens in den Bäumen über uns.
Ich sagte es noch einmal. »Doch, kannst du, Annie.«
Und sie sagte: »Ich weiß.«
»Ich weiß es auch, und ich hab das noch nie zu irgendjemand gesagt, aber ich bin so was von in dich verliebt, Annie, dass ich es fast nicht mehr aushalte, und es macht mich wahnsinnig.«
Dann weiß ich nicht, ob sie lachen oder weinen wollte, aber sie zitterte irgendwie, und sie legte mir beide Hände auf die Schultern und sagte: »Ja, ich liebe dich, Ryan Dean«, und dann sanken wir uns in die Arme.
Ich war unheimlich erleichtert. Ich schloss die Augen und atmete tief, und wir küssten uns wie letztens im Sägewerk, und keiner von uns hörte auf. Es war besser, als wenn sämtliche Wünsche, die ich je gehabt hatte, gleichzeitig in Erfüllung gingen.
»Du riechst gut«, sagte sie.
»Ich hab mich rasiert.«
Sie lachte. »Warum?«
»He, pass auf!«
Wir gingen auf dem Weg am See durch den Wald zur O-Hall zurück. Es war schon spät, und ich musste mich umziehen, sonst ließen sie mich nicht in den Speisesaal.
Aber es war mir egal. Alles war perfekt, und ich wollte nur schlafen.
Aber es war voll aufregend, sich vorzustellen, wie Annie und ich uns zum ersten Mal als wirkliches und wahrhaftiges Liebespaar gemeinsam zum Abendessen hinsetzten. Ich wollte nichts so sehr als mit ihr allein sein.
Annie sagte: »O mein Gott. Ich bin in einen vierzehnjährigen Jungen verliebt.«
»Gewöhn dich dran, alte Schachtel. Wenn du neunzig bist, bin ich achtundachtzig.«