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Ich konnte in der Nacht nicht schlafen.

Ich lag wach auf dem Bett, starrte in die Leere zwischen mir und der Decke und dachte über Seanies Bemerkung nach, dass wir drei mal Freunde gewesen waren, und über den vorwurfsvollen Ton, den seine Stimme gehabt hatte, dabei hatte ich mir eigentlich gar nichts zu Schulden kommen lassen.

Diesmal.

Ich lauschte auf Chas’ Schlafgeräusche. Wie hatte ich es nur so lange überlebt, mit ihm in einem Zimmer zu wohnen? Ich hätte ihn gern auf Megan angesprochen, doch ich wusste, dass dies wahrscheinlich Ryan Dean Wests letzte Worte auf dieser Erde gewesen wären.

Seit drei Tagen hatte Chas kein Wort mehr mit mir gesprochen, aber Megan sah voll traurig aus, und ich machte mir schreckliche Vorwürfe, denn im tiefsten Herzen war sie für mich nicht nur irgendein heißes Mädchen. Ich mochte sie wirklich gern. Ich fand wirklich, dass sie ein toller Mensch war. Ich wollte nur nicht noch einmal den Fehler machen, mich ihr zu sehr anzunähern.

RYAN DEAN WEST 2: Hast du dir das wirklich gerade gesagt – dass Megan Renshaw für dich nicht nur irgendein heißes Mädchen ist?

RYAN DEAN WEST 1: Ich kann nichts dagegen machen. Irgendwas verändert sich in mir.

RYAN DEAN WEST 2: Ach, dann spielst du jetzt doch in Joeys Fairplay-Team mit.

RYAN DEAN WEST 1: Echt scheiße, so was zu sagen.

RYAN DEAN WEST 2: Was ist mit Isabel? Ist die nicht fläumchenmäßig heiß?

RYAN DEAN WEST 1: Halt die Klappe.

RYAN DEAN WEST 2: Doc Mom? Mrs Kurtz? Sind die nicht scharfe-Mom-meines-besten-Freundes-mäßig heiß?

RYAN DEAN WEST 1: Umpf.

RYAN DEAN WEST 2: Was ist mit Annie?

RYAN DEAN WEST 1: Wenn du nicht ich wärst, würde ich dir in die Fresse hauen.

RYAN DEAN WEST 2: Schwester Hickey?

RYAN DEAN WEST 1: Okay, das muss ich zugeben. Schwester Hickey ist so heiß, dass sie fünf von fünf lecken Klimaanlagen auf der Ryan-Dean-West-Skala für globale Erhitzung kriegt.

RYAN DEAN WEST 2: Ausgezeichnet. Es besteht doch noch Hoffnung für dich.

(Ryan Dean West wischt sich den Schweiß von der Stirn.)

RYAN DEAN WEST 2: Loser.

Ich hielt es nicht mehr aus. Ich musste meinen selbstmitleidigen Luschenarsch aus dem Bett bewegen.

Ich schlüpfte in meinen Trainingsanzug, nahm die Schuhe in die Hand, damit sie nicht auf dem Boden quietschten, und ging hinaus.

Auf dem dunklen Flur stieß ich auf Joey, der gerade aus dem Waschraum kam.

Er flüsterte: »Haust du ab oder was?«

»Ich muss nach draußen. Ich kann nicht schlafen.«

»Alter, ich bin von dem Spiel so zerschlagen, ich kann mich nicht mal hinlegen. Warte, ich zieh mir was über und bin in einer Minute draußen bei dir.«

»Okay.«

Es war mir nicht unangenehm, mit Joey zu reden oder mit ihm allein zu sein, und ich weiß, es ist voll kacke von mir, das überhaupt zu erwähnen, so als müsste ich mich vor mir selbst dafür rechtfertigen, mit einem befreundet zu sein, der zufällig schwul war.

Aber die meisten Jungen reagierten in normalen geselligen Situationen verkrampft auf Joeys Gegenwart, mit andern Worten, eigentlich immer, wenn wir nicht auf dem Platz waren und uns beim Rugby gegenseitig die Köpfe einschlugen.

Man sah es schon daran, wie ihre Schultern sich anspannten, und man hörte es daran, wie sie mit ihm redeten: Sie redeten nie wirklich direkt mit Joey, selbst wenn sie ihn etwas fragten, es wirkte immer so, als redeten sie an ihm vorbei, oder mit dem Boden oder so, und in ganz knappen Sätzen.

Es war komisch, aber es fiel mir auf, und Joey ganz bestimmt auch.

Ich sah ihn aus dem Vorraum kommen, und er ließ die Tür so langsam hinter sich zuschnappen, dass sie nicht das leiseste Geräusch machte. Dann setzte er sich auf die Stufen und zog sich die Schuhe an.

»Wo willst du hin?«, fragte er.

Ich zuckte die Achseln.

»Die Hexe im Erdgeschoss hat dich nicht gesehen, oder?«, sagte ich.

»Warum fürchtest du dich so vor der?«

Wir sprachen leise, bis wir weit genug von der O-Hall entfernt waren.

»Alter, Joey, sie macht echt grausige Sachen mit mir. Glaub mir. Ich weiß, dass sie eine Hexe ist oder so.«

Joey lachte. »Von mir aus.« Dann sagte er: »Ich habe Kevin gefragt, ob er mitkommen will, aber wenn er mal im Bett liegt, war’s das. Das Hinlegen und Aufstehen tut ihm auch einfach zu weh.«

Joey ging langsam und vorsichtig. Er humpelte.

Es gibt wirklich nicht viel auf der Welt, was weher tut als ein Körper am Abend nach einem Rugbyspiel, und der Fly-half kriegt fast immer mehr ab als alle andern Spieler auf dem Platz.

Ich warf einen Stein in den See.

»Am Montag, als ich nach dem Fädenziehen zurückgekommen bin, hab ich Mr Farrow beim Sex mit Mrs Singer erwischt. Wie widerlich ist das denn?«

Joey lachte. »Fuck, das gibt’s nicht.«

»Alter, sag es ja nicht weiter. Wenigstens hat mich Mr Farrow darum gebeten. Deshalb standen wir neulich zusammen auf der Treppe, als du gerade mit Kevin reingekommen bist. Er meinte sogar, er würde mich aus der O-Hall zurückverlegen lassen, wenn ich den Mund halte.«

»Und, machst du das?«

»Ich habe ihn gebeten, es nicht zu tun«, sagte ich. »Es würde mit mir im Jungenhaus nicht lange gut gehen. JP hasst mich. Seanie inzwischen auch, glaube ich. Echt ätzend.«

»Du überspannt den Bogen manchmal, Ryan Dean. Du legst es drauf an.«

»Ich weiß.«

»Aber, Scheiße, alle wissen, dass du keine Angst hast zu kämpfen. Du ziehst vor niemand den Schwanz ein«, sagte Joey.

»Ach, ich hab schon Angst. Aber wenn du kämpfen musst, musst du eben kämpfen. Da bleibt dir nichts anderes übrig.« Ich warf wieder einen Stein. »Annie hat mir endlich gesagt, dass sie in mich verliebt ist.«

»Hast du es ihr zuerst gesagt?«

»Ja.«

»Meine Fresse, du traust dich echt was, Ryan Dean.«

»Tut mir leid, wenn es so aussieht, als würden wir alle andern gar nicht mehr wahrnehmen.«

»Alter. Das ist ziemlich offensichtlich.«

Dann gab mir Joey Highfive, aber so schwach, dass wir es noch mal machen mussten.

Nicht rekordverdächtig, aber ganz ordentlich.

»Wenigstens eine Sache, die ich nicht total verkackt habe«, sagte ich.

»Genau.«

Verdammt, dachte ich. Darin hätte er mich nicht bestätigen müssen. Andererseits war Joey niemand, der einen aus Gefälligkeit anlog.

Ich seufzte. »Genau. Das mit JP und Seanie macht mir echt zu schaffen. Wir waren richtig gute Freunde. Aber ich bin einfach nicht damit klargekommen, wie er hinter Annie her war. Ich hätte wissen müssen, dass sie sich im Grunde nichts aus ihm macht. Na ja, jedenfalls nicht so. Gott! Ich bin voll der Idiot. Ich wünschte, ich könnte einfach alles noch mal machen. Ich wünschte, ich hätte überhaupt nie in die O-Hall gemusst, und jetzt sieht es so aus, als würde ich nie wieder rauskommen.«

Joey warf auch einen Stein.

»Ja«, sagte er. »Weißt du, nichts wird je wieder genau so, wie es mal war. Mal dehnt sich was aus, mal zieht sich was zusammen. Wie im Universum, wie beim Atmen. Aber du füllst die Lungen nie zweimal mit derselben Luft. Manchmal wäre es cool, wenn man anhalten und zurückspulen und was noch mal machen könnte. Aber ich glaube, nach ein-, zweimal würde man es satt kriegen.«

»Hast du nicht manchmal Lust, einfach loszuschreien, wie Ned Schreihals?«, fragte ich.

Joey lachte laut. »Manchmal hätte ich Lust, noch mal nach Bannock zu fahren und ihn mir in diesem Donutladen zu schnappen und ihn grün und blau zu prügeln.«

Da lachte ich auch. »Das war eine der irrsten Nächte aller Zeiten.«

»Weiß Gott.«

Es ging mir besser.

Wir gingen zur O-Hall zurück und streiften unsere Schuhe ab, bevor wir die Tür aufmachten und die Treppe hinaufgingen. Ich hatte Angst, wir könnten Mrs Singer begegnen, aber dann dachte ich mir, dass sie es bloß auf mich abgesehen hatte und dass Joey so was wie ein Abwehrzauber gegen sie war.

Ich sagte gute Nacht und bedankte mich, und wir umarmten uns – auf Männerart, klar, mit Rückenklopfen und so –, und Joey schlüpfte in sein Zimmer.

Als ich den Flur hinunter zu meinem Zimmer ging, sah ich, dass Casey Palmer mich beobachtet hatte. Er stand vor seiner Tür und hatte die Arme verschränkt, als ob er sauer wäre und sich schlagen wollte.

Er flüsterte: »Das erklärt alles. Was habt ihr zwei da draußen getrieben, du verfickte kleine Schwuchtel?«

Mann, dachte ich, echt dreist von dir, jemandem mit so einem Scheiß zu kommen.

Ich ging an Casey vorbei.

Dann blieb ich stehen und sagte: »Red keinen Quatsch, Palmer.«

»Ich hasse euch schwule Säue. Ich guck mir den Scheiß, den Joey hier abzieht, nicht mehr länger mit an. Der muss seinen Scheiß mal gründlich ausgetrieben kriegen.«

Nick Matthews machte die Zimmertür auf und trat mit nacktem Oberkörper und nur mit Boxershorts bekleidet in den Gang. Nick war ein dicker Offensivspieler mit dem Tattoo eines Totenschädels auf der behaarten Schulter.

»Ganz genau, Case, wir sollten aus diesen kleinen schwulen Säuen Hackfleisch machen.«

Ich blickte zu Joeys Tür zurück. Ich wünschte, er wäre da und würde hören, was Nick und Casey sagten, aber dann war ich auch froh, dass er es nicht hörte. Es hätte sofort eine wüste Schlägerei gegeben.

Und ich kann gar nicht sagen, wie gern ich Casey reingerieben hätte, was ich wusste, wie gern ihn vor seinem haarigen, tätowierten Zimmergenossen geoutet hätte. Aber ich biss mir buchstäblich auf die Zunge und ging zu Bett, ohne noch ein Wort zu sagen.