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Seanie ging mir den ganzen nächsten Tag aus dem Weg. Er redete im Konditionstraining nicht mit mir und nicht einmal bei unserer Teambesprechung am Ende des Tages.

Wir hatten an Halloween kein Training. Der Trainer entließ uns frühzeitig. Die meisten aus dem Team wohnten nicht in der O-Hall. Sie durften daher alle zum Ball mit Büfett gehen, während die Jungen aus der O-Hall die einzigen zwölf Schüler waren, die im Speisesaal essen und sich dann verziehen mussten.

Allein.

Wenigstens hatten einige von uns Kostüme. Und ich wusste, dass Joey und Kevin nach Kräften dafür sorgen würden, dass wir alle an dem Abend was zu lachen hatten. Also versuchte ich gar nicht daran zu denken, was Annie ohne mich machen würde.

Aber natürlich war das so, als wollte man nicht an den Tritt in die Eier denken, obwohl man den Fuß schon auftreffen sieht.

Solche Situationen waren wirklich das Schlimmste am ganzen O-Hall-Dasein, denn als Joey, Kevin und ich nach unserem stillen Abendessen den Speisesaal verließen, hörten wir aus der Aula die Musik herüberdröhnen.

Ich will nicht lügen: Obwohl Annie und ich fest miteinander gingen, nagte es an mir, auf dem Rückweg in mein Zimmer diese Musik zu hören.

Von der Begegnung mit Casey am Abend zuvor sagte ich Joey nichts.

Rückblickend hätte ich es wahrscheinlich tun sollen, aber zu dem Zeitpunkt dachte ich nur, Joey würde dann auf ihn losgehen. Doch als wir zur O-Hall zurückkamen und die geradezu schmerzhaft unheiße Mrs »Mary Todd« Singer auf der Treppe stehen sahen (überhaupt das erste Mal, dass ich Mrs Singer im Beisein von anderen sah, es musste sie also, kleine Erleichterung, wirklich geben), teilte sie uns etwas mit, das fast nicht zu glauben war.

»Mr Farrow ist heute Abend nicht da«, sagte sie. »Ich vertrete ihn.«

Was, dachte ich, wohl bedeutete, dass sie mich tatsächlich gleich braten und verspeisen würde.

»Es ist mir egal, was ihr macht. Bleibt nur von meiner Etage weg und haltet den Lärm in Grenzen, dann bekommt keiner von uns Schwierigkeiten. Korrekt?«

Ich sah Kevin und Joey an.

Sie hatten es auch gehört.

Also für mich war uns mit »Es ist mir egal, was ihr macht« praktisch die Erlaubnis erteilt, zum Ball zu gehen.

Der Wolfsjunge von Bainbridge Island durfte ausbrechen.

Wir liefen nach oben, um die Kostüme hervorzukramen.

»Ich glaube, sie hat Mr Farrow getötet«, sagte ich. »Oder ihn an ihr Bett gekettet.«

Da sagte Kevin: »Vielleicht hätten wir sie ein bisschen länger aufhalten sollen, dann hätte er die Chance gehabt, sich den Arm freizubeißen.«