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Da stand ich also mitten im Zimmer mit nichts anderem am Leib als diesem Pokémon-Slip, als die Tür aufgestoßen wurde und Chas und Casey hereinkamen.
Chas glotzte mich nur an und schüttelte den Kopf.
»Was?«, sagte ich.
Aber wie Casey mich anschaute, jagte mir echt einen Schauder über den Rücken, zumal nach dem, was ich über ihn wusste und was er offensichtlich von mir und Joey dachte.
Gott! Das war nach dem ganzen Kack in der Woche genau das, was ich brauchte, dass mir ein wütender, geiler, schwuler Footballspieler nachstellte oder sich vor lauter Eifersucht einbildete, ich hätte Sex mit dem Objekt seiner Begierde.
Casey Palmer war ein gefährlicher Psychopath.
»Eure Kostüme sind dort im Fach«, sagte ich. »Viel Spaß damit. Es wird euch gefallen, was wir besorgt haben.«
Joey und ich hatten auf einen Beutel CHAS und auf einen PALMER geschrieben und sie in meiner Schrankhälfte deponiert, nachdem wir die Sachen auseinandersortiert hatten.
Ich legte keinen großen Wert darauf, mit ihnen allein zu sein, wenn sie die Beutel aufmachten und sahen, was wir ihnen zugedacht hatten, deshalb war ich froh, als Joey in Sträflingskluft hinten im Flur erschien und auf meine offene Tür zuschritt.
»Joey!«, rief ich, und er kam.
»Du wirst doch nicht etwa so gehen, Ryan Dean, oder?«, sagte er.
Ich warf Joey nur einen bösen Blick zu, bemerkte aber, wie Casey ihn beäugte, dann wieder mich anschaute, hin und her, als ob er ein Tennismatch verfolgte oder so. Am liebsten hätte ich gesagt: Alter, du liegst total fuck falsch mit mir und Joey, du dämlicher Hohlblock, aber es war völlig offensichtlich, was er dachte.
Er kochte vor Wut. Ich sah, wie er rot anlief, wie seine Hände zitterten.
Als wäre er richtig eifersüchtig auf mich, und das unübersehbar auf die voll schwule Art. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob es lustig oder gruselig war oder sonst was.
Ich stieg in das Wolfsjungen-Leopardenfell und band mir den einzelnen Riemen über die Schulter. Ich musste ihn ziemlich locker binden, weil mir der künstlich ausgefranste Saum kaum über die Nüsse ging.
Ich fand, es war perfekt.
»Darauf wird Annie bestimmt abfahren«, sagte ich und hoffte dabei, Casey registrierte es, dass ich nicht von einem Jungen sprach.
Ich steckte die nackten Füße in meine Laufschuhe und spazierte an Joey vorbei. »Ich geh mir Haargel von Kevin besorgen.«
Im Fortgehen hörte ich Chas sagen: »Den Scheiß zieh ich doch nicht an«, und Casey beschwerte sich: »Fuck, ist das alles, was ihr für mich besorgt hat?«
Ich hatte irgendwie den Eindruck, dass sie mit ihren Kostümen nicht restlos zufrieden waren.
Aber sie zogen sie trotzdem an. Ich weiß auch gar nicht, warum Casey Palmer sich unbedingt an uns dranhängen musste. Er hätte ja auch mit Nick oder einem der andern Arschlöcher aus der O-Hall gehen können, aber wie er sich verhielt, war es offensichtlich – wenigstens für Joey und mich –, dass er ein perverses Interesse hatte, sich uns anzuschließen.
Casey Palmer war hinter irgendwas her.
Ein fuck Vollpfosten, der Typ.
Chas sah besonders lächerlich aus.
Wir hatten in jener Nacht in Bannock nicht so richtig darüber nachgedacht, aber nicht allzu viele Frauen waren über eins neunzig groß, deshalb musste er die Füße der Strumpfhose aufschneiden, damit er den Schritt auch nur über die Knie kriegte.
Über den roten Nylons trug er seinerseits einen Pokémon-Slip.
Ich sagte: »Oh! Partnerlook!«, und lüftete meinen Lendenschurz.
Chas zeigte mir den Finger.
Er zog unsere blauen Rugbystrümpfe an, um die Löcher in seinen Füßen zu verdecken, sodann ein weißes T-Shirt, auf das wir ein großes blaues C gemalt hatten, und schließlich den Umhang, der eigentlich für ein Kind gedacht war und ihm deshalb gerade mal bis zum Hintern ging.
Joey bestätigte mir, was ich schon die ganze Zeit geahnt hatte: Viel schwuler konnte man wirklich nicht aussehen.
Kevin sah toll aus. Er war ganz in Schwarz, und die Hakenhand ragte ihm aus der Schlinge. Natürlich hatte er eine Augenklappe, und er hatte sich einen Lappen aus einem alten schwarzen T-Shirt als Kopftuch über die Haare gebunden.
Kevin kostete das richtig Überwindung, denn seine perfekten blonden Haare waren immer, na ja … perfekt halt. Kevin Cantrell hatte magische Haare. Sie wurden nicht mal beim Rugby verstrubbelt, und jede Kopfbedeckung, bei der sich auch nur ein Strähnchen verschob, widerstrebte ihm zutiefst. Jetzt trug er über dem Kopftuch auch noch einen Piratendreispitz, und er hatte sich sogar mit schwarzem Filzer einen Schnurrbart (ungefähr halb so dick wie der von Isabel) auf die Oberlippe gemalt.
Kevin war ein super Kumpel. Er machte alles mit, und wenn er sich Permanentmarker ins Gesicht schmieren musste.
Er erbot sich sogar, dem Wolfsjungen von Bainbridge Island Brust- und Beinbehaarung anzumalen, aber bei Permanenttinte hörte für mich der Spaß auf.
Angesäuert kam Casey Palmer mit uns mitgegrummelt. Er hatte sich die einmalig geschmacklose Wonder-Woman-Maske aus leichtentzündlichem und krebserregendem Kunststoff aufgesetzt und in der rechten Hand eine etwa anderthalb Meter lange Kordel aus Goldlamé baumeln.
Auf dem langen Weg über das Schulgelände von der O-Hall zur Aula gingen mir die ganze Zeit immer wieder dieselben paar Sachen durch den Kopf.
Erstens, warum zum Teufel zockelt Casey mit uns mit, und wer nimmt das mal in die Hand, dass wir den Arsch abgewimmelt kriegen? Zweitens ist es eine richtig, richtig kalte Angelegenheit, halb nackt durch die Gegend zu laufen. Ach, und drittens fühlt es sich an, als wären aus meinen Eiern gefrorene Rosinen geworden, und die Haut auf meiner entblößten Brustwarze hat sich zusammengezogen, so dass sie so groß ist wie … äh … etwas, das ganz klein und rund ist. Und hart.
Oder so.
Brrrrrr.
Mir kam auf dem ganzen Weg gar nicht der Gedanke, man könnte den Jungs aus der O-Hall den Zutritt zum Ball verwehren wollen, aber genau das trat natürlich ein.
»Ryan Dean West? Was machst du denn hier?«
Der alte Perversling Mr Wellins betätigte sich als Türsteher.
Er fügte hinzu: »Fantastisches Kostüm übrigens.«
Jaja, wurscht. Hör auf, meinen geschrumpften Nippel anzugaffen.
Aber ich wusste, dass Mr Wellins mich leiden mochte. Wenn ich bei ihm Aufsätze schrieb, konnte ich richtig vom Leder ziehen, und natürlich war ich bei ihm in Literatur Klassenbester. Ich wusste genau, was er hören wollte. Na, was schon? Sex!
Wieso kapierten das die andern nicht?
Es geht nie darum, was du denkst, sondern was du nach Meinung des Lehrers denken sollst.
Kikikram.
»Aber ihr werdet Ärger kriegen, weil ihr aus der Opportunity Hall ausgebüxt seid.«
Ich musste meinen Zaubertrick machen.
Meine Augen tränten eh schon. Pinkeln musste ich wirklich, obwohl ich vermutete, es würde in scharfkantigen gelben Eiswürfeln rauskommen.
Autsch. Bei dem Gedanken tränten meine Augen noch mehr.
»Wir haben in der O-Hall erlaubt gekriegt, heute Abend rüberzukommen«, sagte ich. »Weil wir ganz brav waren, Mr Wellins. Sie können ja anrufen und Mrs Singer fragen, die wird es Ihnen bestätigen.«
Mr Wellins guckte wie ein Richter, der ein Leumundszeugnis abwägt.
Ich zitterte.
Ich sagte: »Ach, ich habe übrigens meinen Abschlussaufsatz über In unserer Zeit für Sie fertig.«
Und ich wusste genau, wie ich den Fangschuss setzen musste: »Ich habe ihn über die sexuellen Spannungen zwischen Nick und Bill in ›Drei Tage Sturm‹ geschrieben.«
Dazu musste ich die Möglichkeiten, die im Originaltitel lagen, gar nicht voll ausschlachten. »The Three-Day Blow«. O Mann.
Ich fuhr fort: »Wenn sie sich zusammen betrinken, allein da in der Hütte, und Nick zieht ein Paar von Bills Strümpfen an, und Bill erzählt Nick, wie froh er ist, dass Nick nicht geheiratet hat – da springt einem das tabuisierte, nicht ausgelebte und unerwiderte homosexuelle Interesse doch förmlich entgegen, finde ich.«
Ehrenwort, Mr Wellins guckte so tief bewegt, ich dachte, jetzt fängt er gleich an zu schluchzen. »Du bist brillant, Ryan Dean.«
Dabei saugte ich mir den Scheiß bloß aus den Fingern, weil ich dringend pinkeln musste und noch dringender auf den Ball wollte.
Puh. Jetzt musste ich vor der nächsten Literaturstunde auch noch diesen bekackten Aufsatz raushauen.
Tut mir sehr leid, Hemingway, aber dieser alte Sack hat einer ganzen Schülergeneration ein paar von deinen besten Sachen verleidet.
Mr Wellins sagte: »Na, klingt ja wirklich, als hättet ihr euch damit auseinandergesetzt. Viel Spaß auf dem Ball, Ryan Dean, ich bin gespannt auf diesen Aufsatz morgen.«
Kacke.
Tabuisiert und nicht ausgelebt.
Manchmal überrasche ich mich selbst damit, was ich für ein Riesenross bin.