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In der Tür Highfives von Joey und Kevin, nachdem ich mit Mr Wellins gespielt hatte wie mit einem von diesen Balsaholzschlägern-plus-rotem-Flummiball-an-langem-Gummiband-keine-Ahnung-wie-die-Scheißdinger-heißen, und …
Erste Station: Pissoir.
Und wie ich da stand, musste ich denken: He, so ein Minirock spart einem wirklich viel Zeit und Mühe, wenn man pinkeln muss. Praktisch.
Als ich in den Ballsaal trat, traf ich dort Joey und Kevin wieder, aber Casey und Chas war gnädigerweise fort.
Es war schwer, jemanden zu erkennen, weil ich nicht wusste, wer wie kostümiert war, und weil der Saal dunkel und knallvoll war. Da musste ich mich wohl der Pflicht unterziehen, jedes anwesende Mädchen einzeln leibeszuvisitieren – und potenziell jeden Crossdresser –, bis ich Annie gefunden hatte.
Ich umkurvte Joey und Kevin und sagte: »Ich geh mal Annie suchen. Wir sehen uns später. Und versucht auf jeden Fall, Palmer endgültig abzuwimmeln.«
Joey lächelte und nickte.
Kevin beugte sich an mein Ohr und sagte: »Oh, ich glaube kaum, dass Palmer sich noch mal an uns hängt, nach dem, was Joey eben zu ihm gesagt hat.«
Ich blickte Joey an. »Und was hast du zu ihm gesagt?«
»Nichts«, sagte Joey. »Egal. Geh deine Freundin suchen.«
Später erfuhr ich von Kevin, dass Joey Casey Palmer direkt ins Gesicht gesagt hatte, es gebe an der Pine Mountain reichlich Schwule, und Casey solle gefälligst aufhören, ihn anzubaggern, und Joey sei gern bereit, ihn mit andern schwulen Jungen an der Schule bekannt zu machen.
Er sagte es laut genug, dass andere es hörten. Chas Becker in seiner unausrottbaren Hohlblockigkeit kapierte nicht mal, dass Joey Cosentino keinen Quatsch machte.
Ein Mädchen aus der Fußballmannschaft mopste sich in einem Baströckchen an Kevin heran und fing an, von seiner Stichwunde zu säuseln. Tja, manche Mädchen standen auf Narben. Im Nu hatte Kevin seinen Haken in ihren Rockbund eingehängt, und sie schleppte ihn zum Tanzen ab.
Auf der Tanzfläche tummelten sich die Leute in jeder nur denkbaren Verkleidung. Einige trugen Schuluniformen, was vermutlich auch eine Art Kostümierung war, denn wozu sollte man sich die Mühe machen, für die Kerkerhaft an der Pine Mountain ein Halloweenkostüm einzupacken? Trotzdem freute ich mich über meines, vor allem wenn ich mal wieder ganz beiläufig von einem Mädchen gestreift wurde. Es war mit Abstand das beste Kostüm von allen.
Die Luft im Saal war stickig und feucht.
Ich tauchte in die zuckende, vibrierende Menge ein.
Ich sah Seanie auf einem riesigen L-förmigen Sofa neben Isabel sitzen. Sie tranken Cola. Ich wusste, dass er niemals tanzte, in der Beziehung war er total verklemmt. Und natürlich ging Seanie als Exhibitionist in einem langen gelben Regenmantel und darunter dem Anschein nach nichts. Isabel war es sichtlich unbehaglich, neben ihm zu sitzen, und sie ließ eine deutliche Lücke zwischen sich und ihm. Ich nahm an, Seanie hatte bereits die »Willst du mal sehen, was ich unter meinem Regenmantel anhabe?«-Nummer mit ihr abgezogen.
Isabell war als Tintenfisch oder so was verkleidet. Ich stieg nicht richtig durch, sie hatte auf jeden Fall viele Arme. Ach, und einen Schnurrbart, den ich immer noch irgendwie heiß fand.
»He, Seanie.«
Seanie zuckte regelrecht zusammen, als er mich sah.
»Hi, Ryan Dean«, sagte Isabel. »Irres Kostüm.«
»Danke.« Ich spannte die Muckis an und ließ sie ein bisschen Schenkel sehen.
»Wie bist du reingekommen?«, fragte Seanie.
»Sie haben uns in der O-Hall gehen lassen. Sag mal, kann ich mich kurz zu euch setzen?«
Seanie, der in solchen Sachen immer total verpeilt war, rutschte zur Seite und überließ mir die Lücke zwischen ihm und seiner Dame.
Meinetwegen.
Ich setzte mich.
Einer von Isabels ausgestopften Armen streifte mein nacktes Bein.
Ich sah erst sie an, dann Seanie.
»Ich wollte mich noch mal bei dir entschuldigen, Seanie. Und ich werde mich auch bei JP entschuldigen. Ich weiß, wir werden wahrscheinlich nie wieder Freunde, nicht so wie früher, aber es tut mir leid, dass ich den Streit angefangen habe und dass du dann auch noch mit reingezogen wurdest.«
Ich hielt ihm die Hand hin, und Seanie nahm sie. An der Art, wie er sie drückte, merkte ich, dass mit ihm alles okay war. Jungen können sich am Händedruck gegenseitig ganz gut einschätzen. Zu fest, und du bist ein dämlicher Konkurrenzarsch. Nicht fest genug, oder kalt und feucht, und du verbringst wahrscheinlich viel Zeit auf Pornosites.
Es ist eine Wissenschaft.
»Wir werden immer Freunde sein, Ryan Dean.«
»Danke.«
Dann sagte Seanie: »Wieso habe ich plötzlich das Gefühl, wir sollten zu dir aufs Zimmer gehen und rummachen oder so?«
Isabel hüstelte.
Sie blickte bei Seanie nicht durch. Keine Ahnung, warum sie überhaupt mit ihm zum Ball gegangen war.
Seanie sagte: »JP ist nicht hier. Er wollte nicht mitkommen. Er sitzt im Zimmer und schmollt.«
»Das ätzt doch«, sagte ich. »Und ich bin schuld. Ist Annie hier?«
Seanie blickte in die Runde. »Sie ist hier irgendwo. Auch irgendwie schmollig.«
»Als was ist sie verkleidet?«
»Als Ärztin.«
Oh. Volltreffer.
»Hi, Ryan Dean!« Mrs Kurtz tauchte vor uns auf, offensichtlich verwundert, einen aus der O-Hall auf dem Ball zu sehen.
Dann beugte sie sich an Seanies Ohr und flüsterte ihm etwas zu, was ich ziemlich merkwürdig fand, und er lachte.
Mrs Kurtz richtete sich auf, zwinkerte mir zu und verschwand dann in der Menge der Tänzer.
»Was war denn das?«, sagte ich.
Seanie sagte: »Ich soll dir ausrichten, Pokémon, du solltest vielleicht die Beine übereinanderschlagen oder so, wenn du auf der Couch sitzt.« Seanie beugte sich vor, schaute mir unter den Lendenschurz und sagte: »M-hm. Willst du wissen, woher ich weiß, dass du schwul bist?«
»Weil Leute, die andern auf die Eier gucken, einfach ein Gespür für so Sachen haben?«, mutmaßte ich.
Ja, mit Seanie war alles wieder beim Alten, aber die Beine schlug ich trotzdem nicht übereinander.
Scheiß drauf.
Welcher Junge schlägt schon die Beine übereinander?
Ich sah Megan allein in der Menge tanzen, oder wenigstens sah es so aus, als würde sie allein tanzen. Genauso gut hätte sie mit hundert Leuten tanzen können.
Und, verdammt, sie sah echt gut aus. Sie ging als Stewardess mit so einem topfkuchenförmigem Hütchen, das sie sich schief in die flatternden Haare gesteckt hatte. Sie beobachtete mich.
Ich stand auf.
»Das Rummachen verschieben wir auf später, Seanie«, sagte ich. »Ich dreh mal eine Runde und schau, ob ich Annie irgendwo finde.«
Das war nicht ganz gelogen. Na ja, das mit dem Rummachen schon.
Seanie sagte: »Das Date geht klar.«
Ich begab mich unter die Tänzer, den Blick auf Megan gerichtet, die mich ihrerseits direkt anblickte.
Ich hatte den Verdacht, dass Halloween für mich zu Ryan Dean Wests »Zwölf-Schritte-Programm der Entschuldigung bei allen von mir Gekränkten« werden würde.
Mit Seanie war es schon einer weniger.
Jetzt war noch der verdammte Rest des Planeten übrig.
Da buffte mich Mrs Kurtz mit der Hüfte an, wie die Leute es in den Siebzigern in der Disco machten.
Zwei Sachen: 1. Echt jetzt? Und 2. Das war unglaublich heiß. Zudem hatte sie gerade auf meine Unterhose geguckt, so dass mir ganz warm wurde und eine … ähm … punktuelle Straffung eintrat.
Also beugte ich mich dicht an ihr Ohr, da die Musik so laut war, und sagte: »Entschuldigen Sie, dass ich da drüben so gesessen habe, Mrs Kurtz. Das war unhöflich. Ich habe vorher noch nie einen Rock getragen.«
Und sie klatschte mich ab und sagte: »Ryan Dean, du bist entzückend.«
Hm … die endgültige Entscheidung über das Wort steht noch aus.
Aber ich glaube, ich mag es wirklich nicht besonders.
Mrs Kurtz tanzte ab, und ich schlängelte mich zwischen den wild fuchtelnden Leibern hindurch.
Aber immerhin. Jetzt hatte ich mich schon bei zwei Leuten entschuldigt, und dabei war ich noch keine zehn Minuten aus dem Pissoir.
Aber bei Megan würde ich nicht so leichtes Spiel haben wie bei diesen ersten beiden, denn im tiefsten Inneren wusste ich, dass sie nach wie vor alles von mir haben konnte, was sie wollte.
Alles.
Und das war ziemlich zum Fürchten.
Ich stellte mich direkt neben sie. Es war unglaublich heiß mitten zwischen all diesen Leuten. Damit meine ich heiß, nicht unbedingt »heiß«, auch wenn Megan, die kesse Stewardess, unbedingt fünf von fünf Druckabfallmasken plus eine Bonus-Hühnerpastete in der Ryan-Dean-West-Notstandserhebung für Vielflieger im Blindflug erhielt.
Das ist gradmessersprengend heiß.
»He«, sagte ich.
»Tanz«, sagte sie.
Ich hatte noch nie Hemmungen zu tanzen.
Jungen, die Hemmungen zu tanzen haben, verhalten sich wie verpeilte Volltrottel, und damit sind sie bei den Mädchen schnell unten durch. Ich tanzte also. Wir hatten richtig engen Körperkontakt, und ich fasste Megan an die Hüften, was mir rückblickend als großer Fehler erscheint, denn auf einmal vergaß ich alles auf der Welt und dachte nur noch daran, wie unglaublich heiß sie war (und damit meine ich nicht die Körpertemperatur).
»Megan?«
»Was ist, Ryan Dean?«
»Hä?«
Sie rieb ihre Hüften voll an meine. Mit ihrem ausgestellten Hintern schob sie meinen kleinen Leopardenfell-Lendenschurz in die Höhe. Gott! Nur gut, dass wir mitten im Pulk waren, denn wie man öfter in der Zeitung liest, ist genau die Art zu tanzen die Ursache, wenn angetrunkene Dorfdeppen sich zu wütenden Fackelzügen zusammenrotten und Schulen niederbrennen.
»Ich hab gesagt: ›Was ist, Ryan Dean?‹«.
RYAN DEAN WEST 2: Denk an Baseball.
RYAN DEAN WEST 1: Quatsch. Ich habe keine blasse Ahnung von Baseball.
RYAN DEAN WEST 2: Das ist nur eine Redensart. Denk an einen Ort im Universum, wo es so was wie Sex nicht gibt.
RYAN DEAN WEST 1: Hm, da musst du mir auf die Sprünge helfen. Bannock?
RYAN DEAN WEST 2: Du bist ein verfickter Idiot. Denk an deinen zweiten Vornamen.
RYAN DEAN WEST 1: Okay. Ich hasse meinen zweiten Vornamen.
RYAN DEAN WEST 2: Ich auch.
RYAN DEAN WEST 1: Wie ist eigentlich mein zweiter Vorname?
Mein zweiter Vorname wollte mir partout nicht einfallen.
»Weißt du, wie mein zweiter Vorname ist, Megan?«
»Nein. Wie denn?«
Da fiel er mir wieder ein. »Mario.«
Ich will ehrlich sein. Das ist wirklich mein zweiter Vorname. Und als ich ihn aussprach, konnte ich den Schalter umlegen und aufhören, mich vor der halben Schule zu verhalten wie Pedro, der dauergeile Mops.
Und sie sagte: »Das ist der schärfste zweite Vorname aller Zeiten!«
Was der Rückverwandlung von Mops in Mensch nicht eben förderlich war.
»Ich muss dir was sagen«, sagte ich. »Hör mal kurz auf zu tanzen.«
Auf einmal blickte sie ernst.
Wir hielten an.
Ich zog den Lendenschurz, der mir über den Bauch gerutscht war, nach unten. Es fiel gar niemandem auf. So geht es auf Schulbällen heutzutage zu, falls ihr das noch nicht wusstet.
»Ich wollte dich um Verzeihung bitten, Megan.«
»Ist schon gut, Ryan Dean.«
»Ich mag dich wirklich sehr gern, Megan. Du bist echt das erste Mädchen, das ich je geküsst habe. Ich mag dich total gern. Aber ich bin in Annie verliebt. Das weißt du, nicht wahr?«
»Ich habe mit Chas Schluss gemacht.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Und wenn das meine Schuld ist, dann bitte ich auch dafür um Verzeihung.«
»Musst du nicht.«
»Es wird dich menschlich weiterbringen, Megan. Du bist schön und intelligent, und von denen, die das mitkriegen, hat keiner je was darauf gegeben, dass du alle andern Mädchen an der Pine Mountain mit der zweifelhaften Trophäe Chas Becker ausgestochen hast.«
Ich hörte mich an wie ein Populist, der eine Volksrede gegen die Machenschaften der herrschenden Clique in Washington hielt.
Megan sagte: »Du solltest Anwalt werden, Ryan Dean.«
»Und, alles klar mit uns? Oder hasst du mich jetzt?«, fragte ich.
»Alles klar«, sagte sie. Aber sie guckte traurig. Dann fügte sie hinzu: »Ich bin trotzdem in dich verliebt, Ryan Dean.«
Puh. Das hatte ich nicht kommen sehen. Ehrlich, ich wäre beinahe umgefallen.
»Tanz weiter«, sagte ich. Mir brach die Stimme, aber das konnte sie bei der Musik eh nicht hören, deshalb fühlte ich mich zwar wie ein Loser, aber ich klang wenigstens nicht wie einer.
»Ich mache einen kleinen Spaziergang. Ich muss nachdenken, bevor ich alles noch mehr verkacke als eh schon.«
Megan fing wieder an zu tanzen.
»Ryan Dean?«
»Was?«
»Annie hat wirklich Glück«, sagte sie. »Du bist der beste Mensch, den ich kenne.«
Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Es fühlte sich schrecklich und gleichzeitig unglaublich großartig an.
Es war mir auf jeden Fall lieber als »entzückend«.
Sie behielt mich im Auge, während ich mich zwischen den ganzen verkleideten Tänzern davonmachte. Ich fühlte mich beschämt und bescheuert.
Jemand zog von hinten an mir. Kevin hatte seinen Haken in die gute Hand genommen und sich damit meinen Schulterriemen geangelt. Er tanzte mit ungefähr sechs Mädchen, und er zog mich in seinen Kreis hinein.
»Ist das nicht krass?«, sagte er.
»Hast du Annie gesehen?«
Er zuckte die Achseln.
Ich triefte von Schweiß.
»Ich muss sie finden«, sagte ich.