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Es dauerte eine Weile, bis ich aus Kevins Mädchenkreis ausgebrochen war.
Es war ein bisschen, als müsste ich bei »Der Kaiser schickt Soldaten aus« die feindliche Kette durchbrechen, die in diesem Fall aus sechs heißen Mädchen bestand, denen es gar nichts ausmachte, dass ich sie wieder und wieder ansprang, bis ich schließlich frei war.
Ich wollte mir gerade einen Weg bahnen, da stieß ich mit der Nase direkt auf ein großes blaues C.
»Pass auf, Muschibubi!«
Einen Moment lang war ich beinahe gerührt, dass Chas Becker wieder mit mir sprach.
Ich schluckte.
Ich musste es tun. Ich hatte es mir gelobt.
Ich legte ihm die Hand auf die Schulter und zog seinen Tyrannosaurus-Rex-Schädel auf die Höhe meines appetithäppchengroßen Mickerarschgesichts hinunter.
»Chas, kann ich mal kurz mit dir reden?«
Bevor du mich zu guter Letzt umbringst.
Gott! Er sah total lächerlich aus in diesem Kostüm.
»Worüber?«
»Ich … äh …«
Tja, der Muschibubi hatte vergessen, was er sagen wollte.
Los jetzt, reiß dich zusammen!
»Es tut mir leid, dass ich dich hintergangen habe, Chas. Ich wollte mich entschuldigen. Das war total kacke, wie ich mich verhalten habe.«
Wenn ich es so vage formulierte, sagte ich mir, konnte dies offiziell auch als Entschuldigung dafür gelten, dass ich ihm meine Pisse zu trinken gegeben hatte.
»Ich hab den Bogen überspannt, denke ich mal. Entschuldigung. Ich hab mich auch schon bei Megan entschuldigt, und ich verspreche euch beiden, dass es nicht wieder vorkommt. Tut mir echt leid, Chas. Ich weiß, du wirst mir wahrscheinlich trotzdem den Kopf abreißen, aber wenigstens bin ich das losgeworden.«
Dann hielt ich ihm die Hand hin, und er nahm sie.
»Fuck, Winger, du hast echt Eier. Aber hassen tu ich dich trotzdem.«
Dagegen war nichts zu sagen.
»Ich hasse dich auch, Chas«, sagte ich und grinste.
Da stach mir plötzlich über Chas’ Schulter hinweg am Rand der Tanzfläche ein grüner OP-Kittel ins Auge, dazu weiche schwarze Haare über einem funkelnden Stethoskop.
Es war Annie. Sie hatte mich noch nicht gesehen.
Ich schlich mich von hinten an sie an. Ich schob das Kinn über ihre Schulter und flüsterte: »Ich weiß, Sie haben wahrscheinlich keinen Termin mehr frei, aber könnten Sie mich vielleicht zu einer schnellen Ganzkörperuntersuchung einquetschen?«
Sie drehte sich abrupt um.
Im ersten Moment dachte ich, sie würde mir eine Ohrfeige geben, dann aber schaute sie mich erschrocken und erstaunt an, und sie schenkte mir dieses krasse Lächeln, wo ihr die Augen tränen, und so ungern ich es zugebe, aber ich musste sie nur anschauen, und meine Augen tränten auch.
»O mein Gott!«, sagte sie.
Dann schlang sie die Arme um mich, und wir drückten uns, als hätten wir uns seit Jahren nicht gesehen. Das fühlte sich unheimlich gut an, denn ich war eh praktisch nackt und ganz verschwitzt, und jetzt umarmte ich auch noch eine verdatterte Ärztin.
Was konnte es Besseres geben? Abgesehen von dem kurzen Kuss, den wir uns gaben, heißt das. Man kriegt Ärger an der Pine Mountain, wenn man sich küsst, deshalb muss man es heimlich tun. Und am heimlichsten ging das mitten auf der Tanzfläche, deshalb fasste der Wolfsjunge von Bainbridge Island Annie ganz fest an der Hand, damit wir nicht getrennt werden konnten, und ich zog sie durch das Menschenknäuel in den tiefsten, dunkelsten, wildesten Kuss, den wir uns je gegeben hatten.
»Wie bist du reingekommen?«, fragte sie.
»In der O-Hall haben sie uns gehen lassen, und ich habe Mr Wellins besauigelt, dass er uns reinlässt.«
Annie lachte.
Sie schob die Hände in meine Haare, und wir tanzten.
»Dein Kostüm gefällt mir«, sagte sie.
»Ich bin der Wolfsjunge von Bainbridge Island«, sagte ich. Ich lüftete meinen Lendenschurz. »Mit Pokémon-Unterhöschen.«
Sie lachte und tat so, als hielte sie sich die Augen zu (aber nicht sehr überzeugend), und ich sagte: »Okay. Ich habe dir meine gezeigt, jetzt musst du mir deine zeigen.«
»Du bist voll pervers, Ryan Dean.«
»Ich glaube, dein Mops hat mich angesteckt.«
Wir tanzten, bis wir beide erschöpft waren.
Als wir von der Tanzfläche gingen, um etwas zu trinken, fiel mir ein, dass noch etwas Wichtiges auf meiner Liste stand, und mich bei Casey Palmer zu entschuldigen war es nicht. Das hätte ich niemals getan, und wenn ich ihm noch so oft Pisse zu trinken gegeben hätte.
»Ich wette, Seanie und Isabel haben den ganzen Abend ihr Sofa noch nicht verlassen«, sagte ich. »Lass uns mal nachschauen.«
Annies Wangen waren vom Tanzen gerötet.
Ich beobachtete, wie sie Zitronentee trank.
»Hör mal kurz auf«, sagte ich.
Ich zog sie herum, so dass wir uns gegenüberstanden. Sie blickte mir in die Augen, und ich wusste, dass sie wieder unser Spiel spielte. Sie wusste, dass ich das auch tat.
Ich flüsterte: »Du kannst doch in mich verliebt sein.«
Sie umarmte mich, legte den Mund an mein Ohr und sagte: »Ich weiß.«
Und ich blickte sie an und sagte: »Ach, was jetzt diese Ganzkörperuntersuchung betrifft, Frau Doktor …«
Sie stieß meine Schulter zurück. »Sei still.«
Wir fassten uns an den Händen und gingen zusammen zu dem besagten Sofa, wo ich feststellte, dass sich die Sitzordnung Seanie-Lücke-Isabel seit meinem Fortgang nicht verändert hatte. Annie und ich setzten uns auf die kurze Seite des L, so konnte ich Seanie breitbeinig gegenübersitzen.
Seanie zeigte mir beiläufig den Finger.
»Annie, wartest du hier ein paar Minuten auf mich? Es gibt eine letzte Sache, die ich noch erledigen muss«, sagte ich.
»Und was?«
»Ich will zu JP gehen und ihn überreden, zum Ball mitzukommen, bevor er vorbei ist.«
»Ich weiß nicht, ob du das tun solltest. Er ist ziemlich angepisst, Ryan Dean«, sagte Seanie.
»Schon okay«, sagte ich. »Ein letzter Versuch.«
Ich rieb Annie das Knie und küsste sie auf die Wange, aber kurz, damit niemand es mitkriegte. »Und lass dich von Seanie nicht zu der Nummer ›Willst du mal sehen, was unter dem Regenmantel ist‹ rumkriegen.«
»Ach, hat er doch längst versucht«, sagte sie und verdrehte die Augen.