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Die kalte Luft auf der feuchten Haut fühlte sich gut an, aber nur eine halbe Minute ungefähr.
Dann fing ich an zu frieren.
Ich beschloss, zum Jungenhaus zu rennen.
Im Dunkeln sah ich die schwarz-weißen Streifen eines Kostüms, das nur Joey gehören konnte. Er ging vor mir in meine Richtung, als wäre er auf dem Weg in die O-Hall. An seiner Haltung erkannte ich, dass er wegen irgendwas sauer war.
Ich rief: »He, Joe.«
Er blieb stehen und drehte sich um. Seine Schultern entspannten sich ein bisschen.
»Was ist los?«, sagte ich.
»Ich gehe auf mein Zimmer.«
Ich ging zu ihm.
»Ich hab Annie da drinnen gefunden«, sagte ich.
»Ich hab euch tanzen gesehen. Ihr seht toll aus zusammen, und es war auch fuck fällig, Ryan Dean.«
»Ist alles okay?«
Joey sagte: »Erzähl ich dir später.«
»Oh. Na schön.«
Aha. Irgendwas war passiert.
Ich wusste, dass Joey es mir später erzählen würde und dass es wahrscheinlich irgendeine Lächerlichkeit war. Bestimmt war Casey Palmer am Hetzen. Das Arschloch ließ einfach nicht locker.
»Und wo gehst du hin?«, fragte er.
»Ich will versuchen, JP zum Ball zu holen, bevor Schluss ist«, sagte ich. »Er sitzt in seinem Zimmer und schmollt. Ich kann es ja wenigstens versuchen.«
»Na, dann sehen wir uns später«, sagte Joey.
»Ist auch bestimmt alles okay?«
Er seufzte.
Irgendwas stimmte nicht.
»Ryan Dean? Ich denke mal, mit dir, Kevin und Annie habe ich hier ungefähr drei echte Freunde. Also danke dafür.«
»Du bist mein bester Freund, Joe«, sagte ich, und er lächelte. »He. Hörst du je The Who?«
»Ähm, sehe ich aus, als ob ich fünfzig wäre?«
»Mein Dad liebt sie. Manchmal geht er mit nacktem Oberkörper herum und singt und macht einen auf Roger Daltrey, aber er ist voll mein Dad und sieht einfach aus wie ein klapperdürrer Anwalt aus Boston«, sagte ich. »Jedenfalls gibt es von denen diesen Song ›How Many Friends‹, den er immer singt. Kennst du den?«
»Nein.«
»Ich hab einen iPod. Willst du ihn hören?«
»Du hast einen iPod?«, sagte Joey. Er guckte neugierig, aber gleichzeitig wusste er, dass ich ihn irgendwie veräppelte.
»Jap.«
»Okay.«
Ich steckte eine Hand in den Lendenschurz. Mann! Es war, als würde mir eine gefrorene Lammkeule über die Haut streichen. Ich wühlte ein wenig herum, dann zog ich die Hand heraus und hielt Joey die geschlossene Faust hin.
»Hier«, sagte ich.
Er hielt die Hand auf, und ich legte (natürlich) nichts hinein. Dann sagte ich: »Moment, du brauchst noch die Ohrstöpsel«, und ich steckte ihm mit den eiskalten Daumenkuppen links und rechts nichts ins Ohr.
»Ist es laut genug?«, fragte ich.
»Ähm. Nein?«
»Du Spasti. Du hast ja gar nicht auf ›Play‹ gedrückt. Weißt du nicht mal, wie man einen fuck iPod bedient?«
Jaja, ich muss mich entschuldigen, ich sagte das wirklich. Auch Joey guckte ein bisschen geschockt, aber ich wusste, dass er ein bisschen Magie nötig hatte.
Joey drückte mit dem Zeigefinger in seine leere Handfläche. Ich ließ den Arm kreisen, als wäre ich Pete Townshend, der auf eine Gitarre eindrischt. Und wie gesagt, ich bin Rugbyspieler. Wir singen und genieren uns kein bisschen. Ich sprang also in die Luft und imitierte mit lautem Geheul nach besten Kräften einen klapperdürren Bostoner Anwalt, der Roger Daltrey imitiert.
Joey blickte mich skeptisch an und zuckte die Achseln.
Ich sang: »›How many friends have I really got? That love me, that want me, that’ll take me as I am?‹«
Ich hörte jemand im Dunkeln schreien: »Halt die Schnauze, Ryan Dean!«
»Okay, das war’s. Weiter singe ich gar nicht«, sagte ich. »Jetzt gib mir meinen iPod zurück, bevor wir Ärger kriegen.«
Joey grinste und schüttelte den Kopf.
Ich sagte: »Alter. Highfive.«
Wir klatschten uns ab. Wir stellten einen neuen Homo-Hetero-Highfive-Weltrekord auf.
»Ach, eins noch«, sagte ich. »Bodycheck.«
Wir sprangen in die Höhe und stießen Brust an Brust, und ich lachte Tränen.
»Joey, das war das Schwulste, was ich im Leben je gemacht habe. Na, mit Ausnahme des Gedichts, das ich Seanie mal geschrieben habe.«
Da musste auch Joey lachen.
Wenigstens ein bisschen.
»Verdammt«, sagte ich. »Ich frier mir die Nüsse ab. Ich gehe jetzt lieber JP holen, bevor Schluss ist.«
»Bis später dann«, sagte Joey. Wir gaben uns die Hand, und Joey legte mir die Hand auf die Schulter. »Danke, Ryan Dean.«
»Ich meine das absolut und total unschwul, Joey, aber ich liebe dich«, sagte ich.
»Halt die Schnauze, Ryan Dean.«
Ich lachte.
Joey ging weiter zur O-Hall, und ich lief auf gefrorenen nackten Beinen zum Jungenhaus, wo ich einmal gewohnt hatte.