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Als ich zur O-Hall zurückkam, wirkte alles irgendwie gruselig, als wäre ich in die letzten fünf Minuten eines Horrorfilms geraten.
Anders kann ich es nicht beschreiben.
Der Bau war total dunkel und still, in keinem Fenster brannte Licht. Ich dachte mir, entweder waren alle da und schliefen schon, oder es war noch niemand da und ich war ganz allein.
Ich ging die drei Stufen zum Treppenabsatz hinauf und streifte die Schuhe ab. Ich hätte vermutlich nicht barfuß gehen müssen, denn genaugenommen schlich ich mich ja nicht heimlich ein, aber es war einfach so unheimlich still, dass ich auf dem Weg nach oben kein Geräusch machen wollte.
Im Vorraum gingen die Merkwürdigkeiten weiter.
Die Tür zur unteren Etage stand weit offen, und jede Menge schmutzige Schuhabdrücke führten hinein und hinaus, als ob das Haus von einer Armee in Turnschuhen gestürmt worden wäre, jedenfalls in andern Schuhen als denen, die Mr Farrow tragen würde, Mrs Singer sowieso. Mir war klar, dass die Spuren von Jungen aus der oberen Etage stammen mussten.
Von daher war ich ganz froh, dass ich meine Schuhe nicht anhatte, denn ich konnte mir die morgendliche Schuhüberprüfung durch zwei außerordentlich angepisste Erzieher bestens vorstellen.
Ich ging einen Schritt in die Mädchenetage hinein.
Meine Füße patschten in eine kalte Wasserpfütze auf dem Linoleum. Ich hatte an dem Punkt ziemlich Bammel und fragte mich, wo zum Teufel Mrs Singer steckte.
Sie war fort.
Ich sah, dass auch die Tür zum Waschraum offen stand, und ich hörte ganz schwach Wasser plätschern, als ob die Jungen in der Mädchenetage geduscht und das Wasser nicht richtig abgedreht hätten.
Da beschloss ich, auf dem Flur keinen Schritt mehr weiterzugehen, und in dem Moment hörte ich draußen im Wald zwei Schreie wie von Wildkatzen, ganz weit weg, aber genau die Art von Tönen, die man mitten in der Nacht lieber nicht hört, wenn alles ganz still und unheimlich ist.
Wenn du ganz allein bist.
Mir reichte es. Ich drehte mich um und ging nach oben, ohne die Tür zuzumachen und ohne noch einen einzigen Blick hinter mich zu werfen.
Im Obergeschoss Grabesstille.
Ich ging den Flur hinunter und wünschte inständig, irgendwer würde aus einem Zimmer kommen, weil er aufs Klo musste oder sonst was, selbst wenn es das Arschloch Casey Palmer war.
Doch es war kein Geräusch zu hören.
Ich trat gegen eine leere Whiskeyflasche, und sie klirrte über den Boden. Es hörte sich an wie hundert Xylophone in einer steinernen Grabkammer.
Irgendjemand hatte Scheiße gebaut.
Auf der Treppe ertönten Schritte. Das war’s, dachte ich, gleich werde ich ermordet.
Casey Palmer erschien am Ende der Treppe. Er hatte das Wonder-Woman-Kostüm ausgezogen und trug einen Trainingsanzug. Seine Haut glänzte von Schweiß, und seine Augen waren betrunken und glasig.
»Was ist los, Casey?«, sagte ich. Ich bemühte mich, möglichst freundlich zu klingen, denn, ganz ehrlich, die Art, wie Casey Palmer mich anschaute, machte mir Angst.
Casey beachtete mich gar nicht. Er zog seine Bahn an mir vorbei wie ein Gespenst im Dunkeln. Er roch nach Schweiß und Whiskey und Kotze, alles zusammen.
Er blieb stehen und wischte nach mir, um mich zu fassen, aber ich duckte mich weg. Casey taumelte und wäre beinahe gefallen.
Er sagte: »Ich bring dich um, fuck, wenn du noch einmal was zu mir sagst, Bubi.«
Dann verschwand Casey in seinem Zimmer und schloss die Tür.
Als ich vor meinem Zimmer stand, wünschte ich mir regelrecht, Chas möge da sein.
Ich machte die Tür auf. Zuerst sah ich nur die roten Ziffern auf unserem Wecker. Ich guckte im unteren Bett nach. Chas war da und schlief. Bei seinem Anblick schnaufte ich erleichtert. Ich beugte mich über ihn, um mich zu vergewissern, dass er wirklich da war.
»Was soll der Fuck, du Homo?«, sagte er.
Jap. Auch dir eine gute Nacht, Betch.
»Entschuldige. Ich hatte Schiss. Irgendwie ist kein Schwein hier, und es sieht so aus, als hätte jemand auf der Mädchenetage randaliert oder so.«
Ich zitterte, hauptsächlich vor Kälte.
Ich zog mein Kostüm aus und streifte mir Boxershorts und ein Sweatshirt über. Ich überlegte hin und her, ob ich mir die Zähne putzen gehen sollte. Ich nahm mir Zahnbürste und Zahnpasta, aber mir gruselte davor, hinauszugehen.
»Keine Ahnung, was da für ein Fuck abgeht«, sagte Chas. »Ich versuche schon eine ganze Weile zu schlafen, und ich glaube nicht, dass Farrow da ist oder diese Kuh von unten, denn vor einer Stunde ungefähr war hier ein Mordsgerenne und Rumschmeißen mit irgendwelchem Scheiß, bis ich den Kopf zur Tür rausgestreckt und geschrien habe, sie sollten fuck noch mal mit dem Radau aufhören.«
Ich beschloss, auf die Zahnpflege zu verzichten.
Irgendwas stimmt da draußen nicht, definitiv, und ich wollte auf keinen Fall mit reingezogen werden.
Ich kletterte in mein Bett und versuchte, einfach dazuliegen und wach zu bleiben, um vielleicht dieses Heulen noch einmal zu hören.
Doch ich schlief ein.