Ich verbringe einen ganzen Monat mit Ken, erst in New York, dann noch kurz in Martha’s Vineyard, um endlich mal wieder meinen Akku aufzuladen. Anfang September 1995 bin ich zurück in Moskau und freue mich riesig darauf, mit den Künstlerinnen und Künstlern die Kulisse zu entwickeln, das »Viertel«, in dem die Muppetfiguren und die menschlichen Schauspieler zusammen spielen.
Unser Bienenstaat ist inzwischen auf über 250 Medienfachleute angewachsen, die in ganz Moskau Texte und Musik schreiben und Filme drehen. Wir haben schon zwanzig tolle Realfilme im Kasten, die die russische Kultur feiern, wie zum Beispiel »Gschel«, in dem wir zeigen, wie die traditionelle blau-weiße Keramik entsteht, oder »Kuwizja«, ein Film über die Bauernmusik mit Panflöten, die aus Schilf hergestellt werden. Außerdem drehen wir gerade in Armenien, Kasachstan und der Ukraine.
Die größte Herausforderung bestand zuletzt darin, gleichzeitig die Bearbeitung der Drehbücher und Storyboards und die Überarbeitung der Realfilme vom Roh- zum Feinschnitt und die Musikaufnahmen zu handeln. Gut, dass wir die Zeit, die wir zur Bearbeitung der Drehbücher brauchen, von vier auf zwei Tage und die für die Filmbearbeitung von einer Woche auf vier Tage reduzieren konnten. Das ist eine großartige Leistung, aber wir müssen noch schneller werden, und dafür brauchen wir einen geeigneten Arbeitsplatz.
Also rufe ich wieder einmal Irina an, um sie nach dem neuen Büro zu fragen. Sie erwidert, es gebe leider Verzögerungen am Bau, weshalb wir die Räume noch nicht beziehen könnten. Man könne niemandem einen Vorwurf machen. Ihr schon gar nicht.
Ich habe das alles so satt. Fünf Minuten später trommle ich die Mitglieder unseres Teams zusammen, die in Vikas Büro arbeiten, und sage zu ihnen: »Legt eure Arbeit nieder, nehmt euch einen Stuhl, einen Computer oder einen Drucker und dann alle mir nach. Wir veranstalten unsere eigene Büroübernahme.«
Zehn Minuten darauf spazieren sechs meiner Leute mit Stühlen und einem Computer über den Flur und durch den Haupteingang, weiter über die vielbefahrene Straße hinüber zu Moskinap, wo wir die sechs Stockwerke zu unserem neuen Hauptquartier hinaufsteigen.
Das neue Büro riecht nach frischer Farbe und feuchtem Beton. Wir hören Gelächter, irgendwo spielt jemand Gitarre. Als wir den Raum betreten, sehen wir einige Arbeiter, die auf Betonblöcken im Kreis sitzen und Wodkaflaschen in der Hand halten. Auf dem Boden steht ein halb aufgegessener Kuchen. Der höhlenartige Raum sieht chaotisch aus, er ist halb fertig, an den Wänden lehnen Holzbretter, Zement ergießt sich aus den geöffneten Säcken über den Boden und überall liegen Nägel herum. Die Bauarbeiter sind überrascht, uns zu sehen.
»Sascha hat heute Geburtstag«, sagt einer. Ihm ist schon bewusst, dass er und seine Kumpels eigentlich nicht feiern, sondern arbeiten sollten. Aber seine Erklärung macht mich nur noch wütender, weil heute Robins dreiundzwanzigster Geburtstag ist und wir keine Zeit haben, ihn zu feiern. Und wenn irgendwer es verdient hätte, gefeiert zu werden, dann sie.
Als wir die Bauarbeiter drängen, zu gehen, bleibt eine ungeöffnete Flasche Sekt stehen. Mischa lässt den Korken knallen, hält die Flasche in die Höhe und spricht einen Toast auf Robin aus. Es ist eisig kalt hier in dieser Höhle, in der es noch keine Heizung gibt, aber wir alle genießen das Hochgefühl, endlich ein eigenes Zuhause für die Uliza Sesam zu haben. Ich überrasche Robin mit einem pinken Geburtstagskuchen von einer schicken französischen Bäckerei. Sie freut sich riesig. Dann singen wir alle zusammen »Happy Birthday«.
Während wir dasitzen und Witze reißen – meist auf Robins Kosten –, vergeht allmählich das dünne Herbstlicht. Um sechs Uhr sitzen wir im Dunkeln. Offenbar hat Irina die Stromrechnung noch nicht bezahlt. Aber wir bleiben, Strom oder nicht.
Am nächsten Tag bringen wir weitere Möbel, Ausrüstung und Lebensmittel in unser neues Büro. Als die Nachbarn unter uns hören, dass wir eine neue Fernsehsendung für die Kinder des Landes produzieren, erlauben sie uns, ihre Steckdosen anzuzapfen und auch ihre Telefone dürfen wir benutzen.
Als die Bauarbeiter wiederkommen, stellen sie fest, dass wir inzwischen einen ganzen Raum in dem weitläufigen Büro gekapert, die Nägel beiseite gefegt und keine Lust haben, den Raum wieder zu verlassen. Sie beschließen, uns zu ignorieren, und hämmern und bohren fünf weitere Wochen lang, bis die Renovierung endlich abgeschlossen ist – zumindest fast, denn es fehlt noch eine Klobrille, die anscheinend in ganz Russland nicht aufzutreiben ist.
Im Handumdrehen ist das Büro eingerichtet und überall schwirren Menschen herum. Mit Wolodja und Tamara und der neuen Studiocrew ist unsere fröhliche Bande auf über dreihundert Leute angewachsen. Mischa hat es sich angewöhnt, im Büro seine Lieblingskrawatte mit den Kaffeeflecken und dem Krümelmonstermotiv zu tragen, und zwar jeden Tag. Die Krawatte ist ein Geschenk von mir. Um seinen Claim abzustecken, hat er über einem der ganz großen Schreibtische ein Schild aufgehängt: »ZEIT IST GELD. ICH HABE KEINE ZEIT.«
Gleich an seinem ersten Arbeitstag spricht Wolodja das drängendste Problem an: die Muppets. Seit einem halben Jahr diskutieren wir über ihr Aussehen, ihre Persönlichkeit und Farbe, ohne zu einem befriedigenden Ergebnis gekommen zu sein. Wolodja blättert eine Seite bei Konstantin Stanislawski auf, dem berühmten Regisseur und Schauspieler, dessen improvisatorischer Ansatz zur Entwicklung von Charakteren weltweite Verbreitung fand. Dann trommelt er das Kreativteam zusammen – Autoren, Regisseurinnen und Produzenten – und teilt sie in vier Gruppen auf, um mit ihnen ein Spiel zu spielen.
Als die Gruppen beisammen sind, springt Wolodja plötzlich auf den Tisch und imitiert ein wildes Tier. »Wenn euer Muppet ein Tier wäre – wie würde er sich bewegen?«, schreit er. »So wild wie ich?« Er reckt den Hals und schnüffelt laut. »Was für Geräusche würde er machen? Wie würde er eine Banane essen?«
Er beugt seinen dünnen, wendigen Körper nach vorn, streckt den Kopf und nimmt sich eine imaginäre Banane, pellt sie und tut, als würde er sie essen, wobei er geräuschvoll schnaubt. Alle verfallen in hysterisches Lachen. Wolodjas spielerisches Genie belebt die kreative Ader im Team. Zwei Stunden improvisieren alle und erstellen eine Liste liebenswerter Charakterzüge und körperlicher Merkmale für die drei Muppets.
Die erste, Seliboba, ist eine Ganzkörperpuppe, die ehemals den Namen Domowoi trug. Sie nimmt allmählich Form an: ein zweieinhalb Meter großes, hundähnliches Tier mit langer Schnauze, Schlappohren und ausgeprägtem Geruchssinn. Ein Autor ruft aus: »Seliboba steckt seine große Nase in alles und begreift instinktiv am Geruch, worum es sich handelt. Er kann sogar den Namen eines Liedes riechen.«
Die Russen stellen sich vor, dass Seliboba noch ein paar Zentimeter größer als Bibo ist. Und er soll einige der Charakterzüge tragen, die sich die Produzenten und Autorinnen soeben ausgedacht haben: Freundlichkeit, Mitgefühl und ein spirituelles Verständnis vom Leben. Ich bin heilfroh, dass niemand mehr davon spricht, er solle aussehen wie ein alter Mann oder ein Priester. Jetzt ist er ein großes, einem Kind ähnelndes Wesen, das im Wald in einem riesigen Baumhaus wohnt.
Natürlich denke ich sofort daran, dass wir Unmengen an Material brauchen werden, um dieses Baumhaus zu bauen. Aber die Produzenten haben den Wald-Muppet schon in ihr Herz geschlossen und ich will sie nicht enttäuschen.
In der Mittagspause gehen wir geschlossen hinüber in die Kantine von ORT. Das Menü beschränkt sich auf Brathähnchen, Schnitzel und Hot Dogs sowie in Mayonnaise ertränkte und mit Zucker bestreute Möhren und Suppe. Für mich als Vegetarierin ist es schwer, überhaupt etwas zu finden, und ich frage den Kellner, ob ich die Möhren ohne Mayo und Zucker bekommen kann.
»Njet.«
Ich bestelle einen Kaffee. Es handelt sich um schwarzes Wasser, dessen Geschmack entfernt an Kaffee erinnert. Dann gehe ich zu meinen Kollegen an den Tisch, die schon lebhaft über die Farben der Muppets debattieren. Ich starre in Mischas Schale, in der sich Borschtsch mit Rindfleisch befinden soll. In einer dicken Ölschicht schwimmen Brocken, die kein Fleisch, sondern als Fleisch verkleidete Fettscheiben sind.
Wolodja bringt mich auf den neusten Stand. »Die russischen Puppen können nicht rot sein, weil diese Farbe etwas Gefährliches ausstrahlt, das für die Psyche der jungen Kinder beunruhigend ist.«
Das finde ich ganz und gar nicht. »Aber Elmo ist auch rot. Wenn Millionen von Kindern Elmo lieben, wie kann dann Rot schlecht sein?«
Wolodja sieht mich ungläubig an. »Haben Sie nie Wassily Kandinskys philosophische Abhandlung zur Farbenlehre gelesen? Darin geht es darum, dass Farben unterschiedliche Gefühle hervorrufen.«
Ähh … nein. Das sagt mir leider gar nichts. »Ich, ich, ich … ich weiß, dass Kandinsky ein berühmter Künstler des 20. Jahrhunderts ist«, stammele ich.
Meine Ignoranz erntet erstaunte Blicke. Meine Kollegen bestehen darauf, dass dieses hundert Jahre alte Schema des Meisters unabdingbar ist, um die Farben für unsere russischen Puppen auszuwählen. Was Abstraktion und existentialistische Diskurse betrifft, kann es niemand mit den Russen aufnehmen. Und ich rufe mir in Erinnerung, dass ich genau deshalb so gern mit ihnen zusammenarbeite.
Während die Diskussion weitergeht, hole ich Ed Christies ursprüngliche Entwürfe für Seliboba aus meiner Saddle Bag. Darauf ist der Baumgeist ein riesiges grünes bepelztes Wesen, das aussieht wie ein Berg aus Blättern und Mulch. Ich reiche die Zeichnungen herum und sage: »Ed in New York meinte, als er den russischen Baumgeist ausgearbeitet hat, hatte er die größte Freiheit überhaupt – weil im Gegensatz zu Bibo niemand weiß, wie ein Baumgeist-Muppet wohl aussehen könnte.«
Die Gruppe ist von den Entwürfen sehr angetan, und ein Produzent merkt an, dass die Farbe Grün in Kandinskys Monografie für »Gefühle der Stille und Passivität« steht.
Ich fahre ihnen nur ungern in die Parade, muss aber leider Einspruch erheben: »Der russische Muppet kann nicht grün sein, weil Oskar aus der Mülltonne schon grün ist und wir jede Menge Clips mit Oskar synchronisiert haben. Zwei Puppen mit derselben Farbe, das geht nicht.« Gleich habe ich ein schlechtes Gewissen und schlage vor: »Was ist mit Gelb? Bibo ist in der Uliza Sesam nicht dabei, insofern könnte doch einer der russischen Muppets gelb sein …«
Allgemeines Kopfschütteln. »Kandinsky ist der Ansicht, dass Gelb ein Gefühl von Wahnsinn vermittelt«, zitiert Wolodja das verblichene Orakel.
Als alle aufgegessen haben, sind die Russen zu einem Entschluss gekommen. Seliboba soll die Farbe Blau haben – eine angeblich friedvolle, beruhigende Farbe, die Gefühle von Spiritualität entfacht. Offenbar spielt es jetzt keine Rolle mehr, dass noch auf dem Autorenworkshop vor ein paar Monaten ein homophober Schreiberling meinte, wir könnten auf keinen Fall Blau nehmen, weil das der »Code« für Schwulsein sei.
Das heißt, wir werden eine blaue Puppe haben! Damit Seliboba auch wirklich aussieht wie ein Waldgeist, kommen meine Kollegen auf Ed Christies Idee zurück und meinen, wir könnten erdfarbene Stoffbüschel, Federn, Blätter und Rinde in sein pelziges Fell einarbeiten.
Am Nachmittag skizzieren wir die körperlichen Eigenschaften und Persönlichkeitsmerkmale der anderen beiden Muppets. Die weibliche Handpuppe soll Businka heißen, was »Kleine Perle« bedeutet. Und gemäß Kandinskys komplexer Darstellung optischer Prinzipien beschließt die Gruppe, dass sie pink sein soll.
Dann nimmt Businka allmählich Gestalt an und wird zu einem energiegeladenen pelzigen Feuerball, der durch die Gegend flitzt und eine große joie de vivre ausstrahlt, wie Wika sagt.
Mehrere Frauen wiederholen, was schon in früheren Diskussionen gesagt wurde: Es ist wichtig, dass Businka den typischen Mädchen-Stereotypen zuwiderläuft. »Ihr soll nicht die ganze Zeit gesagt werden, dass sie gehorsam sein soll. Businka soll Risiken eingehen, sie soll leicht erregbar sein und manchmal Befehle missachten«, sagt eine.
Wolodja nimmt das Wort »erregbar« auf und schlägt vor, Businka solle »hysterisch sein und die ganze Zeit weinen«.
Das kommt überhaupt nicht in Frage. Ich bin erleichtert, als Robin, die bis jetzt geschwiegen hat, ausspricht, was ich denke: »Wenn Businka die ganze Zeit weinen würde, wäre das wahnsinnig nervig, und da sie die einzige weibliche Figur ist, würde sie damit bei den Zuschauern und Autoren nicht als ein Vorbild für positives Verhalten angesehen werden.«
Robins Argumentation überzeugt alle, und wir gehen zu der heiklen Frage über, ob die weibliche Puppe Sport treiben soll.
In Russland wird von Frauen erwartet, dass sie sich »feminin« verhalten. In Stellenanzeigen für Sekretärinnen steht oft sogar: »Attraktives Aussehen wird vorausgesetzt.« Erst seit kurzem ändert sich die allgemeine Meinung über Frauen, die Sport treiben. Ich sage: »Ihr müsst diese Frage entscheiden, weil die Drehbuchautoren wissen müssen, ob sie Businka in Szenen zeigen sollen, wo die Muppets Fußball spielen oder sich einen Ball zuwerfen.«
Plötzlich wird es still im Raum. Wolodja reagiert als Erster. »Wenn Sie die Mädchenpuppe Sport machen lassen, stecken Sie das Mädchen in den Jungenkörper und den Jungen in den Mädchenkörper. Das ist schädlich, weil Kinder schon mit drei Jahren eine klare Vorstellung von Geschlechterstereotypen haben, und wir wollen dieser Weltsicht nicht widersprechen.«
Noch so eine »wissenschaftliche Theorie«. Raah.
Nana starrt Wolodja an. »Willst du, dass die russischen Mädchen mit denselben idiotischen Stereotypen aufwachsen, mit denen wir leben mussten?«
»Die Figur wäre doch viel einprägsamer und auch lustiger, wenn sie genau das Gegenteil von dem macht, was die Leute erwarten«, meint Wika und sieht verschmitzt in die Runde. Sie schlägt vor, dass Businka nicht nur Sport machen soll, sondern dass sie sogar eine Tänzerin ist und gern Lambada tanzt, ein mexikanischer Tanz, der in Moskau gerade populär ist.
Die Männer, die die gegenteilige Meinung vertreten haben, werden durch Beschämung in die Kapitulation getrieben. Und so entsteht Businka als ein furchtloser, Lambada tanzender Muppet, der gern Sport macht und offen für neue Erfahrungen ist.
Als Gegengewicht zu Businkas Überschwang und Selibobas Zen-Stimmung beschließt das Team, dass die männliche Handpuppe auf einem urrussischen Archetyp basieren soll: dem schussligen, unbelehrbaren Taugenichts, einem romantischen Träumer, der hoch hinauswill und von allen geliebt wird, dem aber seine Unfähigkeit im Wege steht.
Ein Autor ist vollkommen aus dem Häuschen. Er muss so sehr lachen, dass er kaum die Worte herausbringt. »Ja, genau, die Jungenpuppe macht selbst aus dem kleinsten Problem eine Doktorarbeit, er erfindet eine neumodische Vorrichtung, um seine nassen Socken zu trocknen, und stellt dann fest, dass es ja ›Wäscheleinen‹ schon gibt.«
Alle lachen und erinnern sich an ähnlich unglückselige Charaktere in russischen Romanen. Sie beschließen, die Jungenpuppe Kubik zu nennen, »Würfel«, womit sie auf die Absonderlichkeit und Unbeholfenheit der Figur anspielen. Mehrere Produzenten sprechen sich dafür aus, dass diese Figur ein Unternehmer sein soll, der mit einem Terminplaner herumläuft und unentwegt versucht, im neuen kapitalistischen Russland erfolgreich zu sein, aber trotzdem immer irgendwie scheitert.
Ich frage sie: »Meinen Sie nicht, dass ihm auch ab und zu etwas gelingen sollte, damit die Kinder Lust darauf bekommen, zu experimentieren und Risiken einzugehen, auch wenn das Ergebnis nicht immer zu ihrer Zufriedenheit ausfällt?«
Meine Kollegen nehmen sich die Bemerkung zu Herzen. Am Ende beschließen sie, dass Kubik ein goldiger gelehriger Kerl sein soll, der für Individualität und für die Freiheit steht, Fehler machen zu dürfen – in Russland eine völlig neue Vorstellung.
Der Realfilmregisseur schlägt vor: »Das Beste an Kubiks Persönlichkeit ist, dass er der perfekte Stichwortgeber für Selibobas übermütige Mätzchen ist.«
Ich finde es überaus befriedigend mitzuerleben, wie die Autoren und Produzentinnen zusammenarbeiten.
Inzwischen geht schon die Sonne unter und der Himmel glüht rosaviolett. Eine Autorin meldet Bedenken an, dass russische Eltern vielleicht nicht wollen, dass sich ihre Kinder wie Businka verhalten, mit ihrer unkontrollierbaren und oft nervtötenden Impulsivität, oder wie Kubik mit seinem übertriebenen Ehrgeiz und seiner Starrköpfigkeit oder wie Seliboba mit seiner unbändigen Neugierde und seiner Art, Regeln zu unterwandern. Die Kinder in der Sowjetunion seien dazu erzogen worden, still und gehorsam zu sein – das Gegenteil risikoaffiner Individualisten und tatkräftiger Winzlinge, die Autoritäten herausfordern. Doch letzten Endes beschließen die Produzenten, dass die Muppets diejenigen Eigenschaften und Werte verkörpern sollen, die es der nächsten Generation ermöglichen, im neuen Russland erfolgreich zu sein.
In der nächsten Woche schicken wir die überarbeiteten Entwürfe für Seliboba und die neuen Skizzen für die anderen beiden Muppets per Kurier an Ed Christie. Ed ist von den Vorschlägen meines Teams sehr angetan und sagt, er werde einige Wochen benötigen, um detaillierte Zeichnungen von den neuen Muppets anzufertigen.
Unterdessen fliegen Faxe und E-Mails mit letzten Details wie Stoffen, Kleidung oder der Art der Federn und Blätter, die auf Selibobas Mantel genäht werden sollen, zwischen Russland und Amerika hin und her. Einmal, als Tamara im Moskauer Büro die letzten Zeichnungen der Henson Company von Seliboba in Augenschein nimmt, die auf einem Konferenztisch ausgebreitet sind, ruft sie plötzlich aus: »Seliboba sollte keine Lapti [traditionelle Bastschuhe] tragen, sondern riesige weiße Nike-Turnschuhe, wie sie alle Kinder in Moskau gerade tragen!« Alle finden die Idee großartig. Jemand anders kreischt: »Und Seliboba sollte eine breite Paisley-Krawatte tragen.« Auch diese Idee bekommt ihren Segen.
Jetzt, da die Muppets immer mehr Form annehmen und schon etwa ein Drittel der Real- und Trickfilme fertig sind, ist es an der Zeit, die Kulisse zu entwickeln. Das Sesamstraßen-Viertel, in dem Muppets und Menschen gemeinsam agieren, ist der technisch aufwändigste und teuerste Bestandteil der Produktion. Wir haben nur vier Monate Zeit, um die Szenerie zu entwerfen und zu bauen, schon ab Ende Januar 1996 sollen die Studio-Episoden gedreht werden.
Unter der Woche sehen Wolodja, Tamara und ich die Bewerbungsmappen von über dreißig künstlerischen Leitern aus Moskau durch, die Erfahrung mit Bühnenbildern für Film und Theater haben. Wir entscheiden uns für Maria Ribasowa (»Mascha«). Sie betritt unser Büro in Moskinap, kaum 1,25 Meter groß, große grüne Augen und kastanienbraune lange Haare, die sie zu einem festen Zopf geflochten hat. Sie ist 42 Jahre alt, sieht aber mindestens zehn Jahre jünger aus.
Während sie unsere Fragen beantwortet, wischt sie sich nervös die Strähnen aus der Stirn. Mit weicher Stimme erzählt sie von den Bühnenbildern, die sie für große Theaterproduktionen in Moskau gebaut hat, unter anderem für Die Möwe und den Kirschgarten von Tschechow. Ihre Arbeit ist atemberaubend: ideenreich, hochpräzise und wunderschön.
Mascha sagt von sich aus, dass sie keine Erfahrung mit Fernsehkulissen hat, schon gar nicht für ein Viertel, das von Puppen bewohnt wird. Fernsehserien sind in Russland etwas so Neues, dass es nur wenige künstlerische Leiter gibt, die Erfahrung mit komplexen Kulissen haben, wie wir sie geplant haben. Als wir Mascha fragen, welche Ideen sie für die Sendung hat, reagiert sie zunächst zögerlich, da sie denkt, die Amerikaner hätten dafür schon ihre bewährten Verfahrensweisen. Doch als ihr klar wird, dass sie von uns einen künstlerischen Freibrief bekommt, feuert sie einen ganzen Reigen begeisternder Ideen ab.
Ein paar Tage später kommt sie mit ihren ersten Entwürfen zu uns. »Ich habe mehrere Nächte durchgearbeitet und eine Kulisse konzipiert, die meiner Meinung nach alle bisherigen Kindersendungen in der russischen Geschichte übertrifft«, sagt sie mit Feuer im Blick. Ihr Ehrgeiz und Selbstvertrauen sind bemerkenswert, genau das, was wir gerade brauchen.
Sie weiß schon, dass jede internationale Koproduktion der Sesamstraße neben den neuen, originären auch Elemente aus der amerikanischen Sendung enthält. Zum Beispiel gibt es immer einen öffentlichen Platz, an dem sich die Leute versammeln können. Aber dieser Platz sieht in jedem Land anders aus. Zum Beispiel handelt es sich in der mexikanischen Plaza Sesamo eben um eine Plaza, während die norwegische Sendung in einem Bahnhof spielt oder die südafrikanische Kulisse einen Marktplatz darstellt.
Maschas Dilemma besteht nun darin, dass ihre Kulisse ein typisch russisches Viertel darstellen soll. Nur welches? Soll sie die Architektur aus der Zarenherrschaft, aus der Sowjetära oder aus einer unbekannten Zukunft zugrunde legen? Und welche ästhetischen und kulturellen Elemente soll sie aus ukrainischen und nichtslawischen Kulturen, etwa der postsowjetischen Kultur Zentralasiens, aufnehmen? Das ist eine besonders wichtige Frage, weil die Uliza Sesam in der gesamten ehemaligen Sowjetunion ausgestrahlt werden soll.
Ich verstehe ihre Verwirrung. Noch bis in die 1950er Jahre lebten die meisten Städter in engen Gemeinschaftsunterkünften in Betonbauten, die dem Staat gehörten. Manchmal teilten sich bis zu zehn Familien Küche und Bad. Im kommunistischen Russland musste man mit einer Gefängnisstrafe rechnen, wenn man private Unterkünfte baute, die größer als 42 Quadratmeter waren. Diese Politik führte dazu, dass die immer gleichen tristen Mehrfamilienhäuser in Reihe gebaut wurden, so weit das Auge blickte, wodurch das Stadtbild aller größeren Städte verschandelt wurde. Und gleich neben diesen architektonischen Monstren standen eingekesselt die großartigen neoklassischen Stadthäuser aus dem 19. Jahrhundert, Russlands romantischer Vergangenheit.
Leider hat Mascha keine große Wahl, für welche Epoche sie sich entscheiden soll, weil in Russland gerade extreme Materialknappheit herrscht: Holz, Stoffe, Eisenwaren, Klebstoff und einiges andere müssen wir aus Amerika einschiffen, bevor wir mit dem Bau beginnen können.
Mascha arbeitet am liebsten allein, aber damit die Entwürfe schneller fertig werden, bitte ich sie, mit Bekannten aus Film und Theater ein Brainstorming zu machen. Damit könnten wir auch nach außen zeigen, dass wir offen für alle sind. Ihr gefällt der Vorschlag ganz und gar nicht, und auch Mischa Dawidow, mein Co-Produktionsleiter, wendet ein: »›Brainstorming‹ ist was für Spatzenhirne. Außerdem würden sich die meisten dieser Bühnenbildner nicht einmal im selben Raum aufhalten wollen, geschweige denn miteinander reden.«
In den nächsten Tagen bitte ich Mascha immer wieder, mir den Gefallen zu tun und sich die Sache zu überlegen, und ich versichere ihr, dass sie bei allen Entscheidungen das letzte Wort haben wird. Ich erkläre ihr, dass wir das Ansehen der Uliza Sesam unter den Kreativleuten verbessern müssen. Schließlich willigt sie ein, auch wenn sie meint, die Sache werde ein böses Ende nehmen. Und Mischa sagt zu mir, niemand werde kommen, ohne dafür bezahlt zu werden.
In der nächsten Woche sind zu Mischas Überraschung alle gekommen, die wir um Hilfe gebeten haben, und sitzen nun in Moskinap an unserem Konferenztisch. Nicht einer von ihnen hat nach einem Honorar gefragt. Dr. Genina ist ebenfalls dabei.
Sofort kriegen sich alle in die Haare. Diejenigen, die auf dem Land groß geworden sind, meinen, die Kulissen sollten das Leben außerhalb der verkommenen unmoralischen Städte zeigen. Ein Regisseur, der für seine hochmodernen Interpretationen von Tschechows Stücken bekannt ist, bellt: »Russlands Herz und Seele sind seine majestätischen Flüsse und Birken. Um Russland gerecht zu werden, muss die Kulisse in der Natur verwurzelt sein.«
Ein ausgesprochener Stadtmensch sieht das vollkommen anders. »Auf dem Land leben nur noch Menschen, die auf den Tod warten. Sie werden nicht diejenigen sein, die unser Land wiederaufbauen.« Doch die Verfechter des Landlebens halten beharrlich an ihrer romantisierten Vorstellung von Selo (Dorf) und Priroda (Natur) fest – Wörter, die bei fast allen Russen eine nahezu heilige Ehrfurcht auslösen, ähnlich wie family farm (Familienfarm) oder apple pie (Apfelkuchen) bei uns Amerikanern.
Ein grundlegender Unterschied zwischen dem Amerika und dem Russland der 1990er Jahre besteht jedoch darin, dass der russische Stadtmensch meist sehr viel reicher als der Landmensch ist. Zwar ist zuletzt auch in Amerika die Armutsrate auf dem Land gestiegen, aber die Dörfer im postsowjetischen Russland sind tatsächlich bettelarm.
Ein Regisseur sagt dazu: »Die Ungleichheit zwischen Stadt- und Landbevölkerung ist riesig und nimmt seit dem Zusammenbruch des Kommunismus rapide zu.«
Mascha wiederum meint: »Für uns besteht die Herausforderung darin, eine Kulisse zu entwickeln, die alle Russen anspricht, auf dem Land wie in der Stadt, und auch unsere sowjetischen Brüder.«
Da steht der berühmteste Regisseur im Raum auf und wartet still, bis ihm alle ihre Aufmerksamkeit schenken. Er streicht sich über den Bart, als käme ihm gerade die Erleuchtung, und erklärt mit seiner tieftönenden Stimme: »Unser Land ist schwer beschädigt, und unsere Seele ist krank. Wie sollen wir unsere Kinder umformen oder umerziehen, ohne dafür die Schönheit und die Heilkräfte der Natur zu nutzen?« Die Gruppe hört wie gebannt seinem poetischen Klagelied zu. »Die Kulisse sollte aus einem Wald mit echten Bäumen bestehen, damit unsere Kinder die Verbindung zu ihrem Heimatland wiederentdecken können.«
Die Idee ist schön, aber ich denke nur: Oh nein, nicht schon wieder Bäume. Meint er wirklich echte Bäume, die wir während des viermonatigen Drehs im Studio irgendwie am Leben erhalten müssen? Und ich kriege Herzrasen, wenn ich daran denke, dass der nächste Regisseur vielleicht die gesamte Serie in der sibirischen Taiga drehen will.
Wie ich sie so reden höre, denke ich daran zurück, was mir Jon Stone, der Regisseur der Ur-Sesamstraße, einmal erklärt hat: Am wirkungsvollsten ist die Kulisse, wenn sie die Wirklichkeit widerspiegelt, sodass die Kinder in einer Umgebung lernen und spielen, die sie aus ihrem eigenen Leben kennen. Er hatte die Idee, die Kulisse für die amerikanische Sendung könnte aussehen wie ein Viertel in einer amerikanischen Stadt, mit Mietshäusern aus Sandstein mit rissigen Fassaden, und aus den Fenstern strömt Latin- und Soul-Musik.
Aber schon wenn ich nur ein paar Elemente nenne, die in der amerikanischen Sendung vorkommen, ernte ich heftigen Gegenwind.
»Natasha, in eurer Sesamstraße wohnt Oskar in einer dreckigen Mülltonne. Das ist ekelig!«, ruft ein Regisseur aus. »Wir würden niemals eine Mülltonne in unsere Kulissen setzen, das ist unhygienisch und gefährlich. Die Kinder könnten auf den Gedanken kommen, dass es erlaubt ist, in die Tonne hineinzuklettern.«
»Nicht schon wieder die Mülltonne«, murmle ich.
Am Nachmittag bitte ich Dr. Genina zu sprechen. Sie hat sich immer wieder bei derartigen philosophischen Meinungsverschiedenheiten als ausgezeichnete Diplomatin erwiesen, und sie ist eine Respektsperson, wie eine Lehrerin, die ihre Schüler nach Hause schickt, um ihre schlechten Hausaufgaben zu überarbeiten. Sie ist unerschütterlich und bravourös und ich weiß, sie wird uns zum gewünschten Ergebnis führen.
Sie schlägt einen Kompromiss vor: eine Kulisse mit architektonischen Elementen aus Stadt und Land. »Zum Beispiel könnte unser Fantasieviertel von einer mittelgroßen Stadt inspiriert sein und wiedererkennbare Bauwerke aus Russlands Vergangenheit und Gegenwart beinhalten.«
Mascha nickt begeistert. Ich freue mich, dass sich die beiden Frauen so gut verstehen. Während die Gruppe darüber sinniert, welche Bauwerke das sein könnten, schlägt Mascha vor, auch Chruschtschobas hinzuzunehmen, jene fünfstöckigen Fertighäuser aus Beton, die unter Chruschtschow errichtet wurden und heute alle großen und mittelgroßen Städte dominieren. Die Bezeichnung ist eine Kombination aus dem Namen des sowjetischen Staatschefs Chruschtschow und Truschtschoba, dem russischen Wort für »Slum«. Damit die Kulisse genauso realistisch wird wie die der amerikanischen Sendung, sollten »diese bröckelnden Bausünden unbedingt dazugehören«, findet Mascha.
Dr. Genina weist darauf hin, dass eine wichtige Besonderheit der Chruschtschow’schen Wohnkomplexe der Innenhof ist (dwor), mit Bäumen und oft auch einem Spielplatz. »Vielleicht könnten die Kulissen rund um einen solchen Innenhof angesiedelt werden.«
Die frühen Sowjetarchitekten entwarfen den Dwor als einen idealisierten Ort für die Gemeinschaft, an dem sich die Menschen aus den umliegenden Häusern unabhängig von Sozialstatus oder Vermögen treffen konnten. Der Dwor diente gewissermaßen als kommunistische Zelle, wo sich qualifizierte Berufstätige wie Ärzte oder Akademikerinnen mit Menschen aus der Arbeiterklasse wie Automechanikern oder Fabrikarbeitern trafen und etwas Gutes für die Gemeinschaft taten.
Dr. Geninas Idee weiterdenkend, schlägt Mascha vor: »Ja, wir könnten eine Hütte bauen, in der die Menschen, die in der Anlage wohnen, ihre Fahrräder reparieren.« Dann fügt sie nur halb im Spaß hinzu: »Aber wenn der Hof realistisch sein soll, dann sollten da auch ein verrostetes altes Auto mit gesprungenen Fensterscheiben und ein Müllcontainer stehen, der von Ratten befallen ist und aus dem die Abfälle quellen.«
Ein anderer Regisseur scherzt: »Ja, und der Kerl, der die Fahrräder repariert, ist ein Spitzel, der dem KGB über seine Nachbarn Bericht erstattet.« Ein großer Lacher.
Jetzt revidiert Dr. Genina noch einmal ihre Meinung, weil sie Bedenken hat, wenn die Fernsehsendung in einem Dwor spielt, könnten manche Kinder denken, ihr Innenhof sei ein sicherer Ort zum Spielen – was leider nicht stimmt.
Mascha greift das Argument auf, dann versucht sie mit schier übermenschlicher Anstrengung, beide Parteien zu befrieden, Stadt und Land, indem sie mit einer Engelsgeduld entsprechend den Empfehlungen verschiedene Möglichkeiten aufzeichnet und immer wieder überarbeitet. Zuerst findet kein Entwurf allgemeinen Zuspruch. Aber am Ende des Abends haben wir einen Kompromiss gefunden. Alle sind sich einig, dass sich ein modern gestalteter Innenhof am besten als öffentlicher Versammlungsort in der Uliza Sesam eignet. Alle gehen mit dem hoffnungsfrohen Gefühl nach Hause, dass unsere Sendung den Dwor vielleicht wieder sicher macht.
Mascha arbeitet zu Hause an den Entwürfen weiter, und zwei Tage später kommt sie mit hochdetaillierten Skizzen vom Aufbau der Szenerie ins Büro: ein zweistöckiges Backsteinhaus aus dem 20. Jahrhundert im romanischen Revivalstil mit schmiedeeisernem Balkon für unsere Uliza-Sesam-Familie, eine Holzdatscha für den Hausmeister des Hofes und eine riesige Eiche hinter einem Torbogen aus Stein, der den Eingang zum Innenhof darstellt. In der Eiche soll Selibobas »Baumhaus« sein. Die Zeichnung des Baums mit dem feinen Geflecht der Zweige und dünnen Bleistiftstrichen als Adern der einzelnen Blätter sieht wie eine botanische Darstellung im Museum aus. Alle sind verblüfft von Umfang, Originalität und Realismus der Entwürfe. Als Mascha dann eine große Papierrolle ausbreitet, auf der sie ihre Vorstellung vom Innenhof aufgezeichnet hat, sind wir alle völlig aus dem Häuschen.
Im Mittelpunkt ihres Dwors stehen ein silbernes Raumschiff und ein riesiger pinker Elefant mit mehrfarbigen Quasten und einer juwelenbesetzten Sänfte. Während die Teammitglieder um die Zeichnungen kreisen, die auf dem Konferenztisch ausliegen, studieren Wolodja und ich dieses prachtvolle Fantasieland. Alle beglückwünschen Mascha und bestaunen das interplanetare Gefährt und das Tier. Mascha ist eine so großartige Künstlerin, dass sie in Amerika längst ihren Kaminsims voller Oscars für das beste Szenenbild stehen hätte.
Allerdings wundert es mich, dass sie in ihre Zeichnungen zwar viele Aspekte aufgenommen hat, auf die wir uns in unseren Diskussionen geeinigt haben, dass aber ihre farbenfrohe Fantasiewelt nichts mit einer realistischen Vergangenheit oder Zukunft Russlands zu tun hat. Ich erhebe nur ungern Einwände gegen ihre Entwürfe, vor allem weil sie dafür die Nächte durchgearbeitet hat, muss sie aber doch fragen, woher die Idee mit dem Elefanten und der Raumkapsel kommt.
Sie überlegt kurz, dann sagt sie: »Die Kinder erwarten von ihrem Fernsehprogramm, dass sie etwas Fantastisches zu sehen bekommen, und die Muppets tun alle möglichen Dinge, die Kinder im echten Leben nicht können, zum Beispiel fliegen oder von Gebäuden springen.«
»Aber das tun die Muppets, nicht die Kinder«, erwidere ich sanft. Da ich Maschas Enthusiasmus nicht ausbremsen will, schlage ich vor, die Diskussion am nächsten Tag weiterzuführen.
Am Abend treffe ich mich mit Leonid zum Essen in einem neuen armenischen Restaurant. Ich brauche jetzt etwas Kräftiges und Leonid muss Dampf wegen Irina ablassen. Sie weigert sich immer noch, die Vereinbarung mit der Sesamstraße zu unterzeichnen. Schlimmer noch: Sie hat bislang keinen Cent von dem Geld zurückgezahlt, das ihr Sesame Workshop geliehen hat. Während sich Leonid über Video Art beklagt, fällt es mir schwer, irgendwo in meinem Hirn noch ein Örtchen zu finden, wo ich aufnehmen kann, was er sagt. Ich habe selbst mehr als genug Probleme.
Dann erzähle ich ihm von meinem Tag und von Maschas Elefanten.
Er zuckt die Schultern. »Weißt du, viele Russen sehnen sich nach einer Welt, die unseren Kindern ein besseres, glücklicheres und leichteres Leben bietet als ihnen. Die Uliza Sesam soll für sie die Kindheit sein, die sie selbst nie erlebt haben.« Er reißt sich ein Stück Lawasch ab. »Aber ich dachte, das hättest du inzwischen verstanden, Natasha.«
Am nächsten Tag scheint Mascha offener dafür zu sein, ihre Entwürfe anzupassen. Sie setzt sich mit Wolodja, Tamara, einigen Produzenten und mir an den großen Konferenztisch und schlägt uns Alternativen vor.
Statt eines Elefanten könnte sie auch traditionelle handgeschnitzte Holzskulpturen in Form von Bären, Hasen und Füchsen in den Innenhof stellen, sodass die Kinder damit spielen können.
Ein Produzent sagt: »Als ich ein Kind war, hat mich meine Mutter immer losgeschickt, um am Kiosk frisches Brot zu kaufen.« Die Idee gefällt Mascha. Dann sucht sie sich ein ruhiges Plätzchen und zeichnet einen Picknicktisch mit drei Mädchen, die Teekränzchen spielen, und fügt im Dwor noch eine Nachbarschaftshütte zum Reparieren von Fahrrädern und einen Bäcker hinzu. Ihre farbenfrohe Zeichnung einer Bäckerei im alten Stil mit den Worten »Heißes Brot« in kyrillischer Schrift über dem Querbalken wecken eine nostalgische Sehnsucht nach dem alten Russland und lassen das Team aufjauchzen.
»Unser Dwor wird ein Ort sein, an dem die Menschen miteinander sprechen, Klatsch austauschen und sich gegenseitig helfen.« Sie wackelt mit ihrem Farbstift. »Mein Dwor wird ein realistischer, aber auch ein sicherer, freundlicher und glücklicher Ort sein – wir nehmen all das, was in der Vergangenheit positiv an den Innenhöfen war, und setzen es in einen zeitgenössischen Kontext.«
Mit jedem weiteren Vorschlag, der das russische Leben darstellt, spüre ich die Erleichterung in mir aufsteigen.
Am nächsten Morgen um zehn kommt Mascha mit einem maßstabsgetreuen Pappmodell der Kulisse ins Büro. Alle Einzelheiten sind filigran handgezeichnet, darunter winzige karamellfarbene Brotlaibe im Schaufenster des Bäckers und Holzschnitzereien von Wildschweinen und Vögeln auf den Fensterläden. Es macht mich sprachlos, unsere zukünftige Kulisse derart präzise und anmutig ausgearbeitet zu sehen, bis hin zu dem Laternenpfahl mit dem winzigen grünen Schild »Uliza Sesam«.
Die Teammitglieder kommen in den Konferenzraum, um sich das Modell anzusehen. Alle staunen über Maschas künstlerisches Genie. Auch wenn noch eine Unzahl obskurer technischer Einzelheiten geklärt werden muss, bevor diese Szenerie Wirklichkeit wird, sage ich zu Mascha, dass sie Wolodjas und meine Erwartungen übererfüllt hat. Verlegen senkt sie leicht den Kopf und flüstert: »Und auch meine eigenen Erwartungen.« Angesichts ihrer himmelsstürmenden Kunst ist ihre Bescheidenheit bemerkenswert und ich sage ihr noch einmal, wie dankbar wir ihr alle sind.
Später am Tag teile ich Mascha mit, dass sie nach Amerika fliegen soll, um sich das Studio der Sesamstraße anzusehen und den Leiter der Kunstabteilung kennenzulernen. Das hatte ich in den letzten Wochen noch für mich behalten, weil ich erst abwarten wollte, bis sie auch die Bauzeichnungen mit den Aufrissen und Farbtafeln fertiggestellt hat.
»Das ist unglaublich.« Sie legt sich ihre winzige Hand vor den Mund, als könnte sie die explosive Freude, die ihr Körper verströmt, darin auffangen.
Es bereitet mir eine unbändige Freude, die gute Fee zu spielen, auch wenn die Sesamstraße ihre Reise bezahlt und nicht ich. In den kommenden Wochen wird Mascha noch den Feinschliff an ihren Zeichnungen vornehmen, und ich kann es kaum erwarten, sie dem künstlerischen Leiter der Sesamstraße vorzustellen. Er und seine Kollegen werden von Mascha überwältigt sein. Aber bevor ich mit ihr nach Amerika fliege, müssen wir noch das Casting für die Sendung durchführen.