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Maria Andersson hob die Radarpistole, visierte das nächste Auto an und versuchte, das monotone Piepen auszublenden, während sie die Geschwindigkeit ablas.

Zweiundsechszig Stundenkilometer. Einwandfrei. Sogar langsamer als vorgeschrieben. Auf dieser Strecke waren siebzig erlaubt. Sie nickte zufrieden und ließ das Gerät sinken. Es war früher Morgen. Zu früh für die Rushhour. Der Sonnenaufgang färbte den Himmel über dem Industriegebiet Stallbacka pfirsichrot.

Sie gähnte. »Hast du nicht gerade was von Kaffee gesagt?«, fragte sie über die Schulter, an ihren Kollegen Anders gewandt, der ein paar Meter entfernt Protokoll führte. »Ich muss mir die Finger aufwärmen.«

Anders warf einen Blick auf seine Uhr. »Ja, Zeit für ein Päuschen«, sagte er. Er blickte die Straße hinunter und winkte ihren Kollegen am Minibus zu, der ein paar Hundert Meter entfernt am Kontrollplatz parkte und als mobile Einsatzzentrale diente, wenn sie Temposünder aus dem Verkehr winkten. »Deine Gebete scheinen erhört worden zu sein, unsere Ablösung kommt.«

Maria drehte sich um und nickte Janne und Håkan zu, die am Straßenrand auf sie zukamen. Sie streifte die Radarpistole ab und gab sie Håkan. »Übernimmst du für ein paar Minuten?«, fragte sie.

»Zu Befehl, Frau Inspektorin«, lachte er.

Maria schüttelte den Kopf und ging mit raschen Schritten zum Bus, ohne etwas zu erwidern.

Anders holte sie joggend ein. »Nimm das nicht so ernst, Maria«, sagte er.

»Wann hört ihr endlich damit auf?« Sie blickte ihn wütend an.

»Wir freuen uns für dich. Deine Beförderung ist längst überfällig. Sie kommt keinen Tag zu früh, und ich weiß, dass du das genauso siehst.«

Maria schwieg. Insgeheim gab sie Anders recht. Sie hielt schon viel zu lange an ihrem Dienstgrad fest, und etliche Kollegen hatten sie um mehrere Beförderungen überholt. Tief in ihrem Inneren wusste sie, dass sie einen besseren Posten verdiente. Trotzdem wollte sie nicht befördert werden. Warum konnten die Dinge nicht einfach bleiben, wie sie waren, warum musste sich ständig alles verändern?

Die Stelle bei der Verkehrspolizei in Trollhättan war nicht ihr Traumjob, aber er bezahlte ihre Rechnungen. Und sie fiel nicht großartig auf. Wenn sie bereit gewesen wäre, in eine andere Stadt zu ziehen, hätte sie vielleicht einen verantwortungsvolleren Posten bekommen, doch das war gar nicht ihre Ambition. Sie war in Trollhättan aufgewachsen, und sie wollte in Trollhättan bleiben. Ihre Mutter und ihr Vater waren mittlerweile beide verstorben, aber das alte Reihenhaus ihrer Eltern gab ihr ein Dach über dem Kopf, und ihre beiden Katzen konnten dort ein- und ausgehen, wie es ihnen beliebte. Das war alles, was sie wollte.

Anders schob die Seitentür des Busses auf, stützte ein Knie auf die Stufe und streckte sich nach der Thermoskanne. In diesem Moment knackte Marias Funkgerät. »Roter Volvo, sechsundsiebzig km/h. Winkt ihr ihn raus?«

Maria drückte bestätigend die Antworttaste.

»Holst du den Promilletester?«, bat sie Anders, dann trat sie einen Schritt auf die Fahrbahn und winkte den Volvo heran. Als der Wagen näher kam, sah sie, dass der Lack stumpf und glanzlos war. Die verblichene Farbe schien die feinen Regentröpfchen, die als feuchter Nebel in der Luft hingen, förmlich aufzusaugen. Die Stoßstange war verbeult, die Fahrertür zierte ein tiefer Kratzer. Sie bedeutete dem Fahrer, das Fenster herunterzukurbeln.

»Hallo«, sagte sie und sah ihn ernst an. »Das war ein bisschen schnell.«

Der Mann blickte erstaunt zurück. Er war unrasiert, Bartstoppeln scheuerten am Kragen einer verwaschenen Fleecejacke. »Das kann aber nicht viel gewesen sein«, antwortete er. »Ich hab gar nicht gemerkt, dass ich zu schnell war.«

»Sechs km/h über Maximalgeschwindigkeit«, sagte Maria. »Ihren Führerschein bitte.«

»Gibt es nicht einen Toleranzbereich?« Der Mann funkelte sie wütend an.

»Der ist bereits abgezogen. Ihren Führerschein, bitte.«

Maria seufzte und warf Anders einen müden Blick zu, während der Mann nach seiner Brieftasche kramte. Er wirkte auch auf seinem Führerscheinbild nicht gepflegter, aber der Schein galt für Motorräder und Pkw. Maria scannte den Code auf der Rückseite mit ihrem Diensthandy ein und lud die Daten in die App für Ordnungswidrigkeiten.

Anders kam zu ihr und gab ihr den Promillemesser. »Danke«, sagte sie und hielt dem Volvo-Fahrer das Gerät unter die Nase. »Dann dürfen Sie auch einmal pusten.«

»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, meinte der Mann säuerlich und blies in das Mundstück. Es klickte, als das Gerät genug Atemluft enthielt. Maria kontrollierte das Ergebnis und nickte zufrieden. Nüchtern war er jedenfalls.

»Sie haben Glück gehabt. Sie kommen mit einem Bußgeld wegen Geschwindigkeitsüberschreitung davon.«

»Das ist ein Witz, oder?«

»Leider nein. Tempolimits retten Leben.« Routiniert gab Maria die letzten Daten in die App ein. »Also halten Sie sich bitte in Zukunft daran, in Ordnung?«

Der Mann murmelte etwas, das wie eine Beleidigung klang.

»Entschuldigung, was haben Sie gesagt?« Maria musterte ihn durchdringend.

»Ich würde gerne wissen, ob Sie bald fertig sind. Ich komme zu spät zu einem Termin.«

»Wenn Sie den Bußgeldbescheid akzeptieren, müssen Sie nur noch unterschreiben.« Maria streckte dem Fahrer das Handydisplay entgegen.

Der Mann kritzelte mit dem Zeigefinger einen unleserlichen Namenszug. »Kann ich jetzt weiterfahren?«

Maria betrachtete den Volvo. Sie hätte Anders bitten können, das Fahrzeug zu kontrollieren, beschloss aber, es beim Bußgeld bewenden zu lassen. »Ja, fahren Sie vorsichtig.«

Der Mann kurbelte das Fenster hoch. Maria hörte, wie er im ersten Moment zu viel Gas gab, sich dann aber offensichtlich eines Besseren besann. Als der Volvo verschwunden war, kam Anders zu ihr.

»Du bist wirklich knallhart. Ich weiß nicht, ob ich ihm wegen dieser paar Stundenkilometer ein Bußgeld aufgedrückt hätte.«

»Er ist zu schnell gefahren, und für solche Fälle gibt es den Bußgeldkatalog«, sagte Maria.

»Du hast ja recht.« Anders reichte ihr einen Kaffee. Sie schob ihre freie Hand in die Hosentasche und nippte daran. Er war schon ein wenig abgekühlt. Der Verkehr wurde allmählich dichter. Die Leute fuhren zur Arbeit. Aber sie hielten sich an die Geschwindigkeitsbegrenzung, und wenn schon nicht aus eigenem Antrieb, dann weil das hohe Verkehrsaufkommen Raserei von vornherein unterband.

»Hast du gestern Abend Nachrichten gesehen?«, fragte Anders nach einer Weile.

»Nein.« Maria guckte nie Nachrichten. Das ganze Elend auf der Welt stimmte sie nur traurig. Sie hatte ein Buch gelesen und Tarzan die Kletten aus dem Fell gekämmt, mit denen er von seinem Streifzug heimgekehrt war. Mehr Spannung brauchte sie nicht.

»Du hast es also noch nicht gehört?«

»Was denn? Will ich es überhaupt wissen?«, fragte Maria und streifte die Radarpistole über.

»Im Wald wurde ein Skelett gefunden.«

Marias Funkgerät knackte erneut. Sie schrak zusammen und starrte Anders an, während ein grauer Mercedes an ihnen vorbeiraste. Der Sogwind ließ sie frösteln. »Was hast du gesagt?« Maria umklammerte den Becher mit beiden Händen, damit Anders nicht merkte, wie sehr sie zitterten.

»Ja, ist das nicht krank? Das Skelett war in die Jacke des vermissten Mädchens gehüllt. Sie haben es in sämtlichen Nachrichten gebracht.«

Der Boden verschwand mit einem Mal unter Marias Füßen. Ihr wurde schwindelig, und sie machte einen linkischen Schritt zur Seite, um nicht zu fallen. Eine Pause entstand, während sie fieberhaft nach Worten suchte. »Wie furchtbar«, sagte sie schließlich.

»Ja, oder? Jetzt fragen sich natürlich alle, wer da gefunden wurde.«

Maria schüttelte den Kopf. »Kannst du kurz übernehmen?«, bat sie und hoffte inständig, dass Anders das Beben in ihrer Stimme nicht bemerkte. »Ich muss mich mal kurz im Bus aufwärmen, mir frieren sonst gleich die Finger ab.«