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Als Maria nach Hause kam, verdunkelten bleigraue Wolken den Himmel. Obwohl es mitten am Tag war, hätte man meinen können, es sei früher Abend.

Dicke Regentropfen trommelten auf ihren grauen Volvo, der in der Einfahrt parkte. Der alte V70 war so breit, dass er kaum durch das Tor passte. Sie fuhr ihn nur selten. Es gab auch keinen Grund, das Polizeirevier lag bloß zwanzig Minuten Fußweg entfernt. Meistens stand der Wagen nur herum, und Wind und Wetter stumpften den Lack ab. Aber sie benutzte ihn für gelegentliche Großeinkäufe, und wie das Haus hatte sie den Volvo von ihren Eltern geerbt. Nie und nimmer käme sie auf die Idee, ihn zu verkaufen.

Als sie über die Natursteinplatten, die bei Nässe glatt wie eine Eisbahn wurden, vorsichtig zur Haustür ging, schoss eine grau getigerte Katze unter einem der Gartenbüsche hervor, setzte sich maunzend vor ihre Füße und sah sie mit großen grünen Augen an.

»Hallo, Mistel«, sagte Maria lächelnd.

Auffordernd kratzte die Katze mit einer Pfote an der Eingangstür, wie immer, wenn sie ins Haus wollte. Oder nach draußen. Maria schloss auf. Sobald die Tür einen Spalt geöffnet war, schlüpfte Mistel ohne das kleinste Zeichen von Dankbarkeit hindurch.

»Gern geschehen«, lachte Maria und folgte ihr. Sie zog die Haustür hinter sich zu und schaltete die Deckenlampe im Flur an. Die altmodische Glühlampe spendete ein warmes Licht, nicht wie diese ungemütlichen LED-Lampen, die heutzutage alle verwendeten. Maria graute vor dem Tag, an dem ihr Glühlampenvorrat aufgebraucht wäre. Was sollte sie dann tun? Die orange Tapete, die seit ihrer Kindheit im Flur hing, würde in modernem LED-Licht nicht mehr dieselbe sein. Hin und wieder spielte sie mit dem Gedanken, die Tapete zu überstreichen, konnte sich aber nicht dazu durchringen. Eine neue Küche anzuschaffen, war eine Sache, eine fast identische Ausstattung gab es nach wie vor zu kaufen. Aber die orange Streifentapete würde an den Wänden bleiben, so lange sie lebte.

Sorgfältig hängte sie ihre Jacke zu anderen ordentlich aufgehängten Jacken und Mänteln an die Flurgarderobe, zog ihre Schuhe aus und ging in die Küche. Als sie einen toten Spatz auf dem Fußboden entdeckte, seufzte sie. Ein Flügel stand in einem grotesken Winkel ab. Zum Glück hatte das arme Tier nicht stark geblutet. Behutsam hob sie den Vogel mit einem Stück Haushaltspapier auf und legte ihn in die Kiste, die sie eigens für diesen Zweck im Flurschrank aufbewahrte. Tarzan kehrte von seinen Streifzügen öfter mit erlegten Vögeln zurück, und sie hatte nicht immer die Energie, sie gleich nach draußen zu bringen, vor allem nicht bei Regenwetter. Manchmal schleppte Tarzan außerdem im Lauf des Tages mehrere Beutetiere an, sodass es ohnehin keinen Sinn hatte, jedes Tier einzeln zu entsorgen. Rasch wischte Maria den Fußboden. Dann wusch sie sich die Hände und öffnete den Schrank mit dem Katzenfutter. Kaum hatte sie die Packung herausgenommen, erklangen Mistels Pfoten auf der Treppe, und auch Tarzan erschien augenblicklich in der Küche und strich ihr um die Beine.

»Du hast also immer noch Hunger, du kleiner Mörder«, sagte sie und füllte Trockenfutter in beide Fressnäpfe. Einen für Tarzan, einen für Mistel. Maria ging in die Hocke, streichelte Tarzans schwarzes Fell und kraulte ihn hinter seinem weißen Ohr. Sie spürte, wie sein Leib beim Fressen zuckte, hörte, wie er das Futter hungrig zerbiss. Ihr wurde warm ums Herz, und sie betrachtete ihn mit schief gelegtem Kopf. Tarzan war ein schönes Tier. Sein schwarzes Fell glänzte ganz anders als Mistels, das einen stumpferen Farbton besaß und länger war. Aber außer wenn er fraß, war Tarzan weniger verschmust als Mistel.

Während sie ihren Kater mit Streicheleinheiten verwöhnte, meldete sich ihr eigener Magen zu Wort. Sie hätte sich gerne etwas Besonderes zum Mittagessen gekocht, aber ihr fehlte die Kreativität. Eigentlich kochte sie gern, doch an Tagen wie heute, wenn sie Frühschicht gehabt hatte und obendrein noch ein stressiges Gespräch mit ihrem Chef, verließ sie die Energie. Sie nahm ein Tiefkühl-Fischgratin aus dem Gefrierfach, schob es in den Backofen und stellte eine Eieruhr auf fünfundvierzig Minuten. Dann kochte sie sich einen Rooibostee und wischte die Teeblätter auf, die neben das Sieb und auf ihre blitzblanke Arbeitsfläche gefallen waren. Sie trank immer gern einen Tee, wenn sie darauf wartete, dass das Essen fertig wurde, und es draußen kalt und regnerisch war.

Maria nahm den Tee mit ins Wohnzimmer, zog die ordentlich gefaltete Wolldecke von der Sofalehne, breitete sie über ihre Beine und zappte durch das Fernsehprogramm. Mistel rollte sich neben ihr wie eine Zimtschnecke zusammen und döste augenblicklich ein. So fühle ich mich wohl, dachte Maria, schaltete den Fernseher aus und griff nach dem Buch, das auf dem Wohnzimmertisch lag. Ein unkomplizierter Liebesroman über eine Frau, die eine alte Buchhandlung geerbt hatte. Die Geschichte stimmte sie fröhlich und ließ sie den Alltag für eine Weile vergessen. Sie hatte ihren Tee, ihren Fernseher und ihre Katzen. Wozu brauchte sie eine Beförderung?

Beim Lesen spürte sie die kalte Zugluft, die durch die Ritze zwischen den Terrassentüren drang. Auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Sie blickte in ihr Gärtchen und auf das kleine Rasenquadrat hinaus. Türen und Fenster waren alt und müssten eigentlich erneuert werden, doch die Kosten schreckten sie ab. Einen Moment lang bereute sie, die Beförderung abgelehnt zu haben. Eine Gehaltserhöhung wäre nicht verkehrt gewesen. Seufzend legte sie das Buch aufgeschlagen aufs Sofa und schob die Decke beiseite, um sich einen Pullover zu holen.

Als sie aufstand, wachte Mistel auf und lief vor ihr die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Lächelnd schüttelte Maria den Kopf. Mistel folgte ihr im Haus auf Schritt und Tritt und mogelte sich grundsätzlich an die Spitze, als gebe sie die Marschrichtung vor, im Gegensatz zu Tarzan, der kam und ging, wie es ihm passte. Auch jetzt war er längst wieder durch die Katzenklappe in der Terrassentür hinausspaziert und würde vermutlich die ganze Nacht nicht nach Hause kommen. Maria war überzeugt, dass er sich inzwischen mit der Hälfte seiner weiblichen Artgenossen in der Nachbarschaft gepaart hatte. Sie sollte ihn sterilisieren lassen, bevor er anfing, seine Urinmarkierungen an den falschen Stellen zu setzen, oder zu viele Nachkommen produzierte.

Mit schweren Schritten stieg sie die Treppe hinauf. Jedes Mal wenn sie ins Obergeschoss ging, unterdrückte sie die bohrende Angst, die in ihrer Magengrube rumorte. Im ersten Stock lagen ihr Schlafzimmer, Bad und Gästezimmer – als ob sie je Gäste hätte – und der Raum, den sie niemals betrat, der Raum hinter der geschlossenen Tür gegenüber dem Treppenabsatz. Maria biss die Zähne so fest zusammen, dass sie knirschten, und tat so, als gäbe es die Tür nicht.

Mistel machte dieses Vorhaben zunichte. Maunzend kratzte sie mit der Pfote an der geschlossenen Tür. Maria verharrte auf der obersten Treppenstufe. Mistel drehte den Kopf und sah sie mit ihren grünen Katzenaugen an. Sie maunzte erneut. Von dem Geräusch bekam Maria eine Gänsehaut.

Angst befiel sie. Sie zwang sich, den letzten Schritt die Treppe hinauf zu machen.

»Nein, Süße«, flüsterte sie, als befände sich hinter der Tür jemand, der sie nicht hören durfte. »Da gehen wir nicht rein.«

Sie nahm Mistel auf den Arm und drückte das warme Tier an sich. Noch einmal begegnete sie dem Blick der grünen Katzenaugen, dann machte Mistel die Augen zu und begann zu schnurren. Der gleichmäßige und vibrierende Klang sandte Wärme durch Marias Körper, während sie Mistel mit ins Schlafzimmer nahm.

»Hier ist es viel schöner«, sagte sie. »In dem Raum da drüben gibt es nichts für dich.« Mistel bewegte sich leicht, genoss es aber, auf dem Arm herumgetragen zu werden. Als Maria über die Schulter einen Blick auf die geschlossene Tür warf, erstarrte ihr Lächeln zu einer Grimasse.

Und für mich auch nicht, dachte sie, griff nach dem Pullover, der akribisch gefaltet auf der Kommode am Fußende ihres Bettes lag, und ging nach unten ins Wohnzimmer zurück. Mistel begann zu strampeln. Maria setzte die Katze auf den Fußboden, streifte den Pullover über und wickelte sich in die Decke. Sobald sie die geschlossene Tür im Obergeschoss nicht mehr sah, flaute ihre Unruhe ab, und sie vertiefte sich wieder in den Liebesroman, bis ihr Handy vibrierte.

Eine SMS von einer unbekannten Nummer. Stirnrunzelnd öffnete Maria die Nachricht.