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Kristina spähte durch die Lamellen der heruntergelassenen Jalousie am Küchenfenster. Sie hätte schwören können, dass jeder, der an ihrem Haus vorbeiging, versuchte, in die Fenster zu schauen. Aasgeier, die jetzt, wo die Nachricht an die Öffentlichkeit gedrungen war, hofften, einen Blick auf sie zu erhaschen.

Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis jemand dahinterkam, dass es sich bei dem vermissten Mädchen um ihre Tochter handelte. In Trollhättan gab es keine andere Familie mit ihrem Nachnamen. Seit die Nachricht von dem Skelettfund viral gegangen war, waren die Newsseiten förmlich explodiert und das Rätsel um die Identität des vermissten Mädchens heiß diskutiert worden.

Johan hatte sie geweckt und sie gezwungen, die Frühnachrichten anzusehen, während er panisch durchs Haus gelaufen war und sämtliche Gardinen zugezogen hatte, um den Fotografen den Einblick zu erschweren. Die Medien würden kommen, das wussten sie beide. Bisher hatten sie die Suche nach Mira aus der Ferne verfolgt, vom Parkplatz am Waldrand, wo der Suchtrupp seinen zentralen Knotenpunkt eingerichtet hatte, aber jetzt witterten sie Blut.

Doch noch war die Straße vor ihrem Haus verwaist. Kristina ließ die Lamellen zurückschnappen und griff nach ihrem Handy. Das Display zeigte unzählige verpasste Anrufe und Nachrichten an. Rasch sah sie nach, ob einer der Anrufe einen Rückruf erforderte. Es waren Nummern von Freunden und Bekannten, aber auch unbekannte Nummern oder Nummern von Journalisten, denen sie schon mal ein Interview gegeben hatte. Sie hatte keine Kraft, mit irgendjemandem zu reden, und mit der Presse schon gar nicht. Nicht jetzt. Vielleicht später, wenn alles ausgestanden wäre. Bis dahin konnten die Medien so viel spekulieren, wie sie wollten. Bevor Mira nicht heil und gesund wieder zu Hause war, würde sie ihnen nicht helfen, Schlagzeilen zu produzieren.

Kristina scrollte durch die Textnachrichten und löschte einen offensichtlichen Versuch nach dem nächsten, sie zu einem Statement zu bewegen, bis zu einer Nachricht, bei der ihr der Atem stockte. Sie öffnete die Komplettansicht, doch genau in diesem Moment kam Johan in die Küche.

»Jetzt können diese Aasgeier wenigstens keine Fotos von uns machen«, sagte er kopfschüttelnd und fuhr sich durch seinen wirren Haarschopf. »Unfassbar, dass man sich in seinem eigenen Zuhause verstecken muss.«

Kristina legte ihr Handy mit dem Display nach unten auf den Küchentisch und seufzte schwer. »Nichts ist mehr heilig«, sagte sie.

»Nein, wohl nicht.« Johan sackte auf einen Küchenstuhl und starrte mit leerem Blick vor sich hin. »Diese verfluchten Hyänen. Ist es nicht schlimm genug, dass Mira verschwunden ist? Müssen sie sich auch noch an unserem Unglück weiden?«

Kristina legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Mira lebt. Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.«

Johan verbarg das Gesicht in den Händen und schluchzte auf. Es war deutlich, dass er nicht zeigen wollte, wie ängstlich und verzweifelt er war. Aber Kristina wusste es. Ihren Mann so krank vor Sorge zu sehen, tat ihr in der Seele weh, gleichzeitig verachtete sie ihn dafür. Sie sollte es nicht, aber sie tat es. Johan sollte der Stärkere von ihnen beiden sein, nicht sie. Er war Ingenieur und der bodenständige Part in ihrer Ehe, sie die sensible Künstlerin. Kristina presste die Kiefer aufeinander, ihr Blick wanderte zu ihrem Telefon.

Sie hatte die SMS so deutlich vor Augen, als ob der Text durch das Gehäuse leuchtete. Sie schluckte und streichelte Johans Schulter.

Das Einzige, was sie tun konnte, war warten.