Erik umschloss den Stift mit ungelenken Fingern. Seine Hand zitterte wie früher, wenn der Alkoholpegel in seinem Körper gesunken war, aber er war trocken. Seit zweihundertsiebenundachtzig Tagen. Und nicht nur das, er lag nicht auf einem schmuddeligen Sofa in einer versifften Absteige, in der es nach Bier und Erbrochenem stank, sondern er saß in einem hellen, funktional eingerichteten Büro der Wohnungsgesellschaft Eidar.
»Wo …« Er räusperte sich. »Wo muss ich unterschreiben?«
Die Frau auf der anderen Seite des Schreibtischs lächelte nachsichtig. Sie trug eine Cateye-Brille und hatte ihr rotes Haar im Nacken zu einem Knoten aufgesteckt.
»Hier.« Sein Betreuer Jonas, der neben ihm saß, deutete auf die Linie über Eriks vollem Namen am Ende des Mietvertrags.
Erik Stiernström. Erik lächelte. Er hatte einen klangvollen Familiennamen. Dieser Gedanke war ihm seit vielen Jahren nicht mehr gekommen. Im Gegenteil. Angesichts der Tatsache, dass seine Familie nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte, hatte er seinen Nachnamen gehasst. Doch die meiste Zeit hatte er so gut wie gar nichts gefühlt und gedacht, während er in einem dichten Nebel aus Alkohol und Drogenmissbrauch herumgeirrt war. Zum großen Teil hatte er es Jonas zu verdanken, dass er sein Leben wieder in den Griff bekam.
»Du musst nur noch unterschreiben, dann kriegst du die Schlüssel zu deiner eigenen Wohnung ausgehändigt«, fuhr Jonas fort. »Ist das nicht ein supergutes Gefühl?«
Erik nickte mechanisch und kritzelte ein paar unleserliche Hieroglyphen über seinen computergeschriebenen Namen. Dann fiel ihm der Stift aus der Hand, und er schniefte, um nicht loszuheulen. Rasch fuhr er sich mit der Hand unter der Nase entlang und fing einen Tropfen Rotz auf.
»Ich gratuliere Ihnen«, sagte die Frau und legte ein Bund mit zwei abgenutzten Schlüsseln vor ihn hin. »Hier sind Ihre Wohnungsschlüssel.«
»Glückwunsch, Mann!« Jonas schlug ihm auf die Schulter. »Ist das nicht cool? Deine eigene Bude, Kumpel.«
Erik konnte nur nicken. Er ließ seinen Tränen freien Lauf, griff jedoch, über das ganze Gesicht strahlend, nach dem Schlüsselbund und ballte die Faust darum. Die Metallkanten schnitten in seine Handfläche, aber das war ihm scheißegal.
Unbändige Freude sprudelte in ihm auf. Er hatte eine zweite Chance bekommen, ein zweites Leben. Vor einem knappen Jahr wäre sein Leben fast zu Ende gewesen. Tabletten, Alkohol und Drogen flossen in derartigen Mengen in seinem Blut, dass er geglaubt hatte, es würde nichts anderes mehr existieren. Er war mitten in der Nacht durch die Straßen geirrt und am nächsten Morgen vor der Lextorpskyrkan aufgewacht, ohne zu wissen, wie er dahingekommen war. Das hohe Kirchendach hatte seinen Blick emporgezogen, während er ins Kirchenschiff gewankt war, wo gerade der Konfirmandenunterricht stattfand. Auf einer der Bänke war er zusammengebrochen.
Der Pfarrer hätte die Polizei rufen können. Aber er hatte es nicht getan. Sondern behutsam mit ihm geredet. Seine Stimme hatte den Nebel gelichtet und das erreicht, was von Erik unter all den chemischen Substanzen noch übrig gewesen war.
Gott hatte ihn nicht erlöst, aber der Pfarrer hatte ihm das Leben gerettet. Der Pfarrer und Jonas, der dafür gekämpft hatte, dass Erik von der Flasche und den Drogen loskam. Das hatte er zwar schon zigmal versucht, immer wieder, aber er war jedes Mal gescheitert. Doch diesmal hatte er einen Schwur geleistet. Nie wieder. Er würde für den Rest seines Lebens clean bleiben.
Erik versuchte, seine Ungeduld in Schach zu halten, während Jonas die Bürgschaftserklärung im Auftrag des Sozialdienstes unterschrieb und den Mietvertrag mit der Sachbearbeiterin, deren Namen er nicht mitbekommen hatte, unter Dach und Fach brachte. Schließlich bedankten sie sich, gaben ihr die Hand, verließen das Gebäude und traten in die feuchte Vormittagsluft hinaus.
»Ich bin stolz auf dich«, sagte Jonas, als sie in sein Auto stiegen. »Du hast etwas geleistet, was die meisten nicht schaffen, ist dir das klar?«
Erik lächelte. »Nein.«
»Das hast du. Du bist auferstanden wie Phönix aus der Asche. Du bist frei.« Jonas sah ihn ernst an. »Aber Freiheit bedeutet Verantwortung. Ich vertraue dir, aber du musst deinen Therapieplan einhalten, zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker gehen, und du darfst keinen einzigen Tag unentschuldigt bei der Arbeit fehlen. Falls du unsicher bist, was du tun sollst, rufst du mich sofort an. Okay?«
»Na klar«, versprach Erik. Jonas hatte ihm einen Job bei einer Reinigungsfirma vermittelt. Seit zwei Monaten fuhr er jeden Morgen mit dem Bus ins Industriegebiet Stallbacka und putzte in einem Büro in der Nähe der Feuerwehr. Es war kein Traumjob, aber die Arbeitszeiten sorgten dafür, dass er hinterher zu müde war, um mit seinen alten Saufkumpanen abzuhängen. Würde er das tun, wäre er in Nullkommanix wieder in der Spirale aus Drogen und Alkohol gefangen. Er würde sich von seinen alten Kreisen fernhalten, das hatte er sich geschworen.
»Wunderbar!« Jonas ließ den Motor an. »Auf geht’s zu dir nach Hause.«
Es war nicht weit, Trollhättan war keine große Stadt. Sie hörten Radio, bis die Nachrichten um das Skelett zu kreisen begannen, das in der Jacke des vermissten Mädchens gefunden worden war. Jonas schaltete das Radio aus und murmelte etwas über kranke Menschen. Erik gab ihm recht und verspürte einen Anflug von Erleichterung. Er hatte genug eigene Sorgen. Einen Moment lang überlegte er, ob jemand ahnte oder möglicherweise sogar wusste, zu wem das Skelett gehörte. Ihn schauderte, doch in diesem Moment parkte Jonas vor einem der roten Backsteinhochhäuser im Lantmannavägen, und er schob den Gedanken beiseite. Sie waren da.
Im Fahrstuhl und auf dem Weg durch den Flur redete Jonas pausenlos auf ihn ein, bis sie vor einer abgenutzten dunkelbraunen Holztür haltmachten. Die Wand neben der Wohnungstür war mit Graffiti beschmiert. Mit zittriger Hand schob Erik den Schlüssel ins Schloss. Er rechnete damit, dass der Schlüssel nicht passte, dass sich alles nur als böser Scherz entpuppte. Doch das Schloss klickte, wie es sollte, und die Wohnungstür ging auf. Sie betraten ein schlichtes Ein-Zimmer-Appartement mit Kochnische. Das Fenster ging auf den Parkplatz und Kronogårdens Zentrum hinaus. Lachend deutete Jonas auf das Dach seines alten Saab.
Das Appartement war nur spärlich möbliert. In einer Ecke stand ein altes Bett mit einer blau-weiß gestreiften Matratze, daneben eine Stehlampe mit einem altmodischen Schirm, und vor dem gardinenlosen Fenster stand ein ausgedienter Holztisch mit zwei Stühlen. Aber Erik war das herzlich egal. Es war seine Wohnung. Stolz lächelnd fuhr er mit der Hand über die Küchenarbeitsfläche, drehte das Wasser in der Spüle auf und trank direkt aus dem Hahn. Ein paar Tropfen blieben in seinen Bartstoppeln hängen. Er wischte sie mit dem Ärmel weg, dann drehte er sich um und sah Jonas mit Tränen in den Augen an.
»Hier wohne ich«, sagte er, machte eine ausholende Geste und sah sich um. »Das ist meine Wohnung!«
»Ganz genau«, bestätigte Jonas. »Wir müssen sie nur noch ein bisschen aufhübschen, dann hast du’s hier urgemütlich.« Misstrauisch ruckelte er an einem Bettpfosten und brachte damit das ganze Gestell ins Schwanken.
»Aber das Bett hat seine besten Tage eindeutig hinter sich. Ich werde prüfen, ob ich nicht einen Bezugsschein für ein neues Bett bewilligt bekomme.«
Erik hörte gar nicht zu. »Ein Fernseher wäre toll«, sagte er verträumt. Im Übergangsheim hatte er viel ferngeguckt. Er hatte stundenlang im Gemeinschaftsraum gesessen, vollkommen reglos auf dem Sofa, und sich von seichten Unterhaltungsshows berieseln lassen. Glücklich holte er Luft. »Ich will nach der Arbeit einfach nur vor der Glotze hocken. Jeden Abend.«
Jonas nickte. »Dein Lohn muss für deinen Lebensunterhalt reichen, und du darfst auf gar keinen Fall mit der Miete in Rückstand kommen. Ich versuche, im Internet einen gebrauchten Fernseher für dich aufzutreiben, dafür finden wir eine Lösung.«
»Danke. Aber ich habe nicht vor, tausend Dinge zu kaufen.« Erik zuckte die Achseln. »Ich brauche nicht viel. Meine Habseligkeiten trage ich am Leib.« Er log Jonas nicht gerne an, aber er hatte keine andere Wahl. Einige seiner persönlichen Gegenstände waren noch in der Wohnung, in der er vor dem Entzug gehaust hatte – vorausgesetzt, sie waren nicht geklaut worden. Doch Jonas würde nie und nimmer erlauben, dass er dorthin ging und sie holte.
Aber er würde es tun. Später. Es gab etwas, von dem er hoffte, dass niemand es entwendet hatte. Etwas, das er brauchte, um sein altes Leben endgültig hinter sich zu lassen. Jonas musste nicht alles wissen.
Ein Freudenschrei aus dem Badezimmer riss ihn aus seinen Gedanken. Jonas hatte die Wohnungsbesichtigung fortgesetzt.
»Du hast sogar eine Badewanne. Luxus, Kumpel!«