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Knapp zwei Stunden später lief Erik in Richtung der hellroten Backsteinhäuser im Stadtteil Humlan. Er folgte denselben maroden, mit Stolperfallen übersäten Gehwegen, die er schon so viele Male zuvor entlanggegangen war, und verschwand zwischen den dicht an dicht stehenden dreistöckigen Mietskasernen des Viertels. Obwohl sie als Teil des Millionenprogramms der schwedischen Regierung Ende der Sechzigerjahre aus dem Boden gestampft worden waren, wirkten die Gebäude vergleichsweise freundlich und gepflegt, wenn auch anonym und in die Jahre gekommen. Die Siedlung war kein unbehaglicher Ort, aber auch kein Ort, an den er sich zurücksehnte.

Schließlich hatte er sein Ziel erreicht. Er blieb vor der Eingangstür eines der Häuser stehen und sammelte Kraft. Für jeden anderen war es nur irgendeine Eingangstür zu irgendeinem Treppenaufgang in irgendeinem tristen Randbezirk von Trollhättan. Aber nicht für Erik Stiernström. Für ihn war es der Eingang zu einer Prüfung, vergleichbar mit dem magischen Portal, das die Helden in Fantasyromanen durchschritten, um sich der vor ihnen liegenden Aufgaben und Herausforderungen als würdig zu erweisen.

Erik streckte die Hand nach der Klinke aus. Seine Finger zitterten, und ihn überkamen Zweifel. Er ballte die Hand zur Faust, zog sie zurück, schloss die Augen und gab sich Mühe, ruhig zu atmen. Jonas hätte nie zugelassen, dass er tat, was er im Begriff war zu tun. Er hätte es fast selbst nicht zugelassen. Er wollte auf dem Absatz kehrtmachen, in seine neue Wohnung zurückgehen, weg von diesem Haus, aber er wusste, dass er es tun musste. Allein. Manchmal musste man sich seinen Dämonen stellen, und sei es nur, weil sie weniger furchteinflößend waren, sobald sie sich zu erkennen gegeben hatten.

Erik streckte die Hand aus, zog die Tür auf, betrat mit einem entschlossenen Schritt das Treppenhaus, und sofort war alles wieder wie früher. So fürchterlich bekannt. Die dunkelgrauen Betonstufen und der Geruch von Reinigungsmittel. Während er langsam Stufe für Stufe hinaufging, suchten ihn Erinnerungen heim.

Von Zeit zu Zeit, in Phasen, in denen er ganz tief im Drogensumpf gesteckt hatte, hatte er in einer Wohnung im zweiten Stock genächtigt. Doch das würde niemals wieder sein Zuhause werden. Er war fertig mit diesem Ort.

Der Schlüssel fühlte sich schwer und kalt an. Er zog ihn aus der Tasche und schob ihn ins Schloss. Als er ihn herumdrehte, merkte er, dass er sich die Mühe hätte sparen können. Die Tür war unverschlossen. Kopfschüttelnd drückte er die Klinke herunter und stieß die Tür auf.

Im Flur war es dunkel. Es gab keine Lampe, das einzige Licht fiel durch das Wohnzimmerfenster am hinteren Ende der Wohnung. Hier empfing ihn ein gänzlich anderer Geruch als im Treppenhaus. Müll, der seit Tagen vor sich hin gammelte. Säuerlicher Biergestank. Der Geruch von Erbrochenem. Erik schluckte die aufwallende Übelkeit herunter und betrat den Flur. So hatte er gelebt. Die meiste Zeit war er stoned gewesen. Hier war er öfter aufgewacht, als er sich eingestehen wollte, allein oder mit anderen Junkies, die genauso zugedröhnt gewesen waren wie er. Meistens hatte er keine Erinnerung daran gehabt, was er gemacht hatte. Er konnte von Glück sagen, dass er die Bude nicht abgefackelt hatte, weil er mit einer brennenden Kippe in der Visage eingeschlafen war.

So leise er konnte, schlich er den Flur entlang an einem der Schlafzimmer vorbei. Die Tür war geschlossen, aber er wusste, wie es dahinter aussah, er war viele Male in dem Raum gewesen. Obwohl es nach drei Uhr nachmittags war, schnarchte dort jemand. In dieser Wohnung war die Zeit aus den Fugen geraten. Die Nächte versanken in Rausch, die Tage in Schlaf, bis Zeit keine Rolle mehr spielte.

Das Schlafzimmer gehörte Jörgen, dem Mann, dessen Name trotz der Dinge, die seit Jahren in dieser Wohnung abliefen, noch immer im Mietvertrag stand. Dass die Hausverwaltung ihn nicht rausschmiss, grenzte an ein Wunder, ebenso wie die Tatsache, dass er noch am Leben war. Erik ging in die Küche.

Ein einziger Blick ließ weitere Erinnerungen hochkommen. Auf dem Tisch häuften sich Dosen und Flaschen. Offenbar hatte jemand den Aschenbecher vom Tisch gefegt, und der Fußboden war mit Asche, Kippen und Scherben übersät. Kopfschüttelnd ging Erik ins Wohnzimmer. Der Couchtisch war wie der Küchentisch mit Flaschen voll gestellt. Ein Pizzakarton in der Mitte war die einzige Spur von fester Nahrung. Aber auch der Karton hatte als Aschenbecher gedient. In einem letzten vertrockneten Pizzastück steckte ein Zigarettenstummel.

Auf dem Sofa lag eine Frau. Ihre Bluse hatte sich eng um ihren Oberkörper geschnürt, fettige blonde Strähnen hingen ihr ins Gesicht. Sie war älter als er, eher fünfzig als vierzig. Er hatte sie noch nie gesehen. Wohl eine neue Bekanntschaft. Zum Glück musste er nicht mit ihr reden. Sie schlief tief und fest, einen Arm über der Stirn, die nackten Beine auf die Armlehne gelegt. Sie trug einen beigefarbenen Slip.

In ihrer Reichweite stand eine fast leere Flasche Whisky. Das Tageslicht, das durchs Fenster fiel, spiegelte sich in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit und zog Eriks Blick an. Seine Zunge fühlte sich augenblicklich trocken an. Er war den ganzen Weg zu Fuß gegangen. Der Spaziergang hatte ihn durstig gemacht. Es wäre so leicht, die Flasche zu nehmen und seinen Durst zu stillen. Ein winziger Schluck konnte doch wohl nicht schaden? Ein Schluck, mehr nicht.

Eriks Puls beschleunigte sich. Ohne es zu merken, hatte er einen Schritt auf die Flasche zugemacht, jetzt erstarrte er mitten in der Bewegung. Das war genau das, was Jonas befürchtet hätte. Zu Recht. Er war wieder da, wo sein Abstieg begonnen hatte. Gelegenheit machte Diebe oder in seinem Fall: den Säufer. Am Anfang hatte er gesoffen, um zu vergessen, dann hatte er weitergesoffen, um nicht an das erinnert zu werden, was er vergessen wollte. Natürlich hatte das nicht funktioniert. Die Erinnerungen, die er hatte ertränken wollen, waren umso klarer hervorgetreten, je verzweifelter er versucht hatte, sie zu verdrängen. Jetzt musste er darum kämpfen, dass sie ihn nicht wieder in den Abgrund zogen. Er war nicht hier, um sich zu betrinken.

Erik riss den Blick von der Whiskyflasche los und schaute zum zweiten Schlafzimmer, dessen Tür offen stand. Er sah das Bett, in dem er viele Jahre geschlafen hatte. Darin lagen ein Mann, den er nicht kannte, und eine dunkelhaarige Frau, die er kannte. Es kribbelte in ihm, als er an sie dachte. Dinge, die sie im Rausch miteinander getan hatten, stiegen in ihm auf und weckten beschämende Erinnerungen. Zum Glück schlief sie. Alles, was er tun musste, um diesen Ort wieder zu verlassen, war, in das Zimmer zu gehen und seinen Rucksack herauszuholen – wenn er noch da war.

Leise schlüpfte er ins Zimmer und tastete sich an der Wand entlang. Die Jalousie war heruntergelassen, und im Dunkeln konnte er kaum etwas erkennen. Abgesehen von zwei Betten war der Raum unmöbliert. Das Pärchen, das in einem der Betten schlief, lag aufeinander, als wären sie mitten im Akt eingeschlafen. Das zweite Bett war leer. Daneben, an die Wand gelehnt wie ein schlaffer Sack Kartoffeln, stand sein Rucksack. Er war leichter, als er es in Erinnerung hatte, aber leer war er nicht. Erik zog den Reißverschluss auf und wühlte darin herum. Einige Sachen fehlten, jemand hatte seine Abwesenheit genutzt, um nützliche Dinge zu klauen.

»Verdammte Idioten«, murmelte er leise, während er kontrollierte, was noch da war. Seine Klamotten waren weg. Damit hatte er gerechnet. Aber es ging ihm nicht um seine alten Klamotten. Die würde er nicht vermissen. Im Übergangsheim hatte er neue Kleidung, die Jonas ihm in die Wohnung bringen würde.

Als seine Finger auf etwas Hartes stießen, schnellte sein Puls in die Höhe, und er nahm den Gegenstand heraus. Es war noch da. Sein Tagebuch. Erik seufzte erleichtert und blätterte das Buch rasch durch, um sich zu vergewissern, dass keine Seite fehlte. Wie durch ein Wunder war es unversehrt. Wahrscheinlich hatte sich keiner für eine alte, schmierige Kladde interessiert. Wenn jemand darin gelesen hatte, war die Neugier desjenigen ganz bestimmt schnell versiegt. Für die Säufer hier war das Tagebuch uninteressant, für Erik jedoch war es lebenswichtig. Auf diesen Seiten stand all das, an das er sich erinnern wollte. Dinge, für die er sich schämte, aber auch Lichtblicke, die er an guten Tagen geschrieben hatte, oft auf denselben Seiten wie die furchtbaren Dinge. Und weil er die guten Erinnerungen nicht vernichten konnte, mussten auch die schlechten bestehen bleiben, Seite an Seite neben den guten.

Lächelnd fuhr Erik mit der Hand über den Einband. Von nun an würde er das Tagebuch nur noch mit schönen Erinnerungen füllen. Sobald diese Geschichte mit Mira Stare ausgestanden war. Er legte das Tagebuch zurück in den Rucksack und warf ihn sich über die Schulter. Er hatte gefunden, weshalb er gekommen war. Jetzt galt es, diesen Ort so schnell, wie er nur konnte, zu verlassen.

Als er auf den Flur hinaustrat, war die fremde Frau auf dem Sofa aufgewacht. Sie blinzelte ihn mit verschwommenem Blick an.

»Wer zum Teufel bist du?«, krächzte sie.

»Das geht dich einen Scheißdreck an«, erwiderte er und ging den Flur hinunter.

Doch als er die Tür öffnen wollte, war sie verschlossen. Merkwürdig, dachte er und fummelte am Türknauf herum, als ihm jemand eine Hand auf die Schulter legte.

»Na so was! Wen haben wir denn hier? Kommst du uns mal wieder besuchen, Erik?«

Erik fuhr herum und blickte in ein unrasiertes, von zerzausten, ungewaschenen Haaren umgebenes Gesicht. Ein durchdringendes graues Augenpaar schimmerte im Halbdunkel und blickte ihn an. Jörgen. Die Tür zu seinem Schlafzimmer stand jetzt offen.

»Willkommen zu Hause«, sagte er. »Bleib doch noch ein bisschen. Wir zwei Hübschen haben was zu besprechen.«