Erik hievte den Rucksack höher auf die Schulter.
»Ich muss gehen«, sagte er.
Jörgen schüttelte den Kopf. »Warum so eilig?«
Die Frau, die auf dem Sofa gelegen hatte, tauchte wie ein Schatten vor dem Wohnzimmerfenster auf. Sie lehnte sich an die Wand und zündete sich eine Zigarette an.
»Nein, nein.« Jörgen schwankte leicht, als er Erik im Nacken packte und ihn zurück in die Wohnung dirigierte. Sein Atem stank nach Alkohol. Die Frau blies eine Nikotinwolke aus. Die Gerüche vermengten sich und kitzelten Eriks unterdrückte Süchte. Vergeblich versuchte er, sich aus Jörgens Griff zu winden. Der ältere Mann wirkte äußerlich nicht wie ein Kraftprotz, aber seine Finger waren stark und umklammerten Eriks Hals wie eine Schraubzwinge.
»Ich habe nur geholt, was mir gehört«, keuchte Erik. »Ich habe hier nichts mehr zu schaffen, und ich habe nichts genommen, was dir gehört.«
Jörgen stieß ihn in die Küche. »Setz dich. Kann ich dir was anbieten?«, fragte er und hielt eine ungeöffnete Bierdose hoch.
Erik betrachtete die verführerisch glänzende Dose und wich vor ihr zurück wie vor einer glühenden Speerspitze. »Nein«, sagte er. Seine Achselhöhlen wurden schweißnass.
»Was hast du? Ist mein Bier etwa nicht mehr gut genug für dich?«
»Doch, aber …« Erik verstummte.
»Was, aber?« Jörgen starrte ihn an. »Dann trink.«
»Ich habe aufgehört«, sagte Erik.
Jörgens Blick wanderte zwischen Erik und der Bierdose hin und her. Er setzte eine verständnisvolle Miene auf, stellte die Dose auf den Küchentisch, ließ sie aber nicht los. »Setz dich«, wiederholte er und deutete auf einen Stuhl.
Eriks Puls hämmerte. »Ich muss los«, beharrte er.
Jörgen schlug die Dose mit einem Knall auf den Tisch. »Setz dich, verflucht noch mal!«, spie er.
Eriks Beine gehorchten kaum. Seine Knie versagten ihm, als er widerstrebend auf den Stuhl sank, auf den Jörgen zeigte. Lächelnd setzte Jörgen sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Mit einem Zischen öffnete er die Bierdose, die Erik ausgeschlagen hatte, und weißer Schaum quoll daraus hervor. Warmer Biergeruch kroch Erik in die Nase.
»Du kapierst doch wohl, dass du nicht einfach die Biege machen kannst?«, sagte Jörgen und suchte etwas zwischen den leeren Flaschen auf dem Tisch.
»Ich kann nicht weiter hier wohnen«, erwiderte Erik. »Das musst du verstehen.«
»Mmm«, murmelte Jörgen und entdeckte eine Zigarettenkippe, an der noch ein guter Zentimeter Tabak hing. »Schon klar, ich verstehe, du bist jetzt clean. Ein neuer Mensch.« Er steckte sich die Kippe an und sog den Rauch genüsslich ein.
Erik konnte nichts sagen. Er nickte nur.
Jörgen ließ den Rauch zwischen seinen aufgesprungenen Lippen entweichen und blies Erik eine Qualmwolke ins Gesicht. »Halleluja. Aber so einfach ist es nicht, mein Freund. Das ist dir doch klar? Alles im Leben hat seinen Preis.«
»Ich habe keine Ahnung, was du meinst.« Erik schluckte.
»Doch, hast du. Glaubst du etwa, du hast hier für lau gewohnt?«
»Bitte, Jörgen. Keiner hat was von Miete gesagt. Scheiße, das Bett war ja nicht mal jede Nacht frei.«
»Nein, manchmal hattest du darin Gesellschaft.« Jörgen wies mit der Kippe in Richtung Wohnzimmer. »Betty da, die kostet auch, weißt du? Aber wie auch immer, ich verlange das, was mir zusteht.«
»Wir haben nie …«, begann Erik, doch Jörgen brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen.
»Bist du dir da sicher? Denk bloß mal an das ganze Zeug, mit dem du dich hier zugedröhnt hast.« Jörgen tippte sich an die Brust. »Mein Alk. Mein Koks. Alles war meins. All das hat Kosten verursacht, mein Freund. Und jetzt ist es Zeit, dass du deine Schulden begleichst.«
Erik versuchte, gelassen zu bleiben, obwohl die Angst in ihm brodelte. Schweigend sah er zu, wie Jörgen ein letztes Mal an der Kippe zog, nach der Bierdose griff und ein paar Schlucke trank. Dann streckte er ihm die Dose hin. »Bist du sicher, dass du nicht willst?«
Erik schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass ich keine Kohle habe.«
»Das ist mir scheißegal.«
Eriks Hände zitterten. Er ballte sie unter dem Tisch zu Fäusten, damit Jörgen es nicht bemerkte. Die Frau aus dem Wohnzimmer kam in die Küche. Sie legte Erik eine Hand auf die Schulter und sah Jörgen an. Jörgen grinste und trank noch einen Schluck Bier.
»Sei nicht zu hart zu ihm«, sagte sie. Jahrelanges Rauchen hatte ihre Stimme auf ein heiseres Krächzen reduziert. »Er ist immerhin dein Kumpel.«
Jörgen nickte. »Ja klar, aber trotzdem will ich das Geld, das mir zusteht.«
Die Frau streichelte Eriks Wange mit unsanfter Hand und presste seinen Kopf gegen ihren harten Hüftknochen.
»Ich habe keine Kohle«, wiederholte Erik. Er wehrte sich nicht. Er hatte keine Ahnung, ob die Frau wirklich auf seiner Seite stand oder ob sie in Jörgens miesem Spiel mitspielte.
»Fünfundsiebzigtausend.« Jörgen zuckte die Schultern und sah Erik an.
Eriks Magen verkrampfte sich vor Panik. Er schüttelte Bettys Hand ab und setzte sich aufrecht hin. »Fünfundsiebzigtausend? Bist du irre?«
»Das ist bei Weitem nicht die Summe, die du mir schuldig bist. Aber wie Betty sagt: Du bist ein Kumpel. Ich will nicht zu hart zu dir sein.«
»Wie soll ich an so viel Geld kommen, verdammte Scheiße?«
»Ein kleines Vöglein hat mir gezwitschert, dass du einen Job hast.«
Betty sah ihn an und nickte beeindruckt, doch Erik schüttelte den Kopf. »Was ich da verdiene, reicht gerade mal mit Ach und Krach für Miete und Lebensmittel.«
»Ganz genau. Es reicht für die Miete, die du mir schuldest.« Jörgen grinste wieder. Die gelben Zähne unter seinen bärtigen Lippen glichen Reißzähnen. »Dir wird schon was einfallen. Und wenn nicht, kannst du deine Schulden jederzeit abarbeiten, indem du mein Koks vertickst. Was sagst du?«
»Ich will Koks.« Betty setzte sich neben Jörgen und streichelte seinen Nacken.
»Niemals«, sagte Erik und nutzte die Gelegenheit, um aufzustehen.
»Du hast eine Woche.«
Betty begann Jörgen zu küssen. Erik ging in den Flur und schloss die Wohnungstür auf.
»Ich weiß, wo du wohnst«, rief Jörgen ihm nach.
Erik ließ die Tür hinter sich zufallen. Dann rannte er die Treppe hinunter, stürzte ins helle Tageslicht hinaus und rannte, so weit ihn seine Beine trugen. An einem verwaisten Spielplatz blieb er stehen und sog frische Luft in die Lungen, während er versuchte, seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Die frische Luft fühlte sich befreiend an, rein, frei von Nikotin- und Müllgestank. In Eriks Kopf drehte sich alles. Er hatte seine letzte Prüfung bestanden und war aus Jörgens Wohnung entkommen, ohne den Verlockungen zu erliegen. Trotzdem konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Panik packte ihn.
Zwei Elstern hüpften zwischen den Klettergerüsten umher. Erik sah ihnen zu, während er versuchte, seine Panik zu bezwingen. Doch schließlich flatterten sie davon und ließen sich ein Stück entfernt auf einem Balkongeländer nieder.
Er hatte immer gewusst, dass Jörgen ihm früher oder später Geld abpressen würde. Und fünfundsiebzigtausend war weniger, als er erwartet hatte. Erik sank auf die Kante einer alten Rutsche und atmete tief durch. Dann zog er sein Handy aus der Hosentasche. Er hatte eine SMS bekommen. Er öffnete die Nachricht und las sie durch, wieder und wieder.