Robert wanderte ungeduldig vor den Anzeigetafeln auf und ab, die verkündeten, in welchen Sälen die Verhandlungen anberaumt waren. Der Schlafmangel saß ihm in den Gliedern, drei Tassen Kaffee als Mittagessen hatten keine Abhilfe geschaffen.
Seine Verhandlung begann in einer Viertelstunde in Saal 14. Die Staatsanwaltschaft gegen Linda irgendwas, den Nachnamen hatte er vergessen. Er war der Frau nie persönlich begegnet, dafür war keine Zeit gewesen. Sie hatte ihm eine E-Mail geschrieben, in der sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie dieses Schwein (ihre Wortwahl) sehr wohl geschlagen hatte, weil er es nicht anders verdient hatte. Das entsprach vermutlich sogar der Wahrheit, aber es gab ihm nichts an die Hand, um seine Verteidigung aufzubauen. Das Einzige, was er tun konnte, war, dem Richter verständlich zu machen, warum das Schwein es verdient hatte, und darauf zu hoffen, dass der Grund schlimm genug war, um das Strafmaß zu mindern. Auf Notwehr zu plädieren, wäre dann doch zu viel des Optimismus gewesen.
Um sich wach zu halten, zog er sein Handy aus der Innentasche seiner Anzugjacke und loggte sich in seinen E-Mail-Account ein. Eine E-Mail kam von einer Anwältin namens Johanna Granwall, die Betreffzeile lautete: Gütertrennungsvereinbarung. Misstrauisch äugte er auf das Display und öffnete die Nachricht. Sie betraf keine berufliche Angelegenheit, sondern eine persönliche. Die Absenderin stellte sich übertrieben förmlich als Jessika Lööfs Rechtsberaterin in der Scheidungsangelegenheit Lööf – Silver vor und übersandte ihm auf diesem Wege (im Anhang) einen Entwurf der Gütertrennungsvereinbarung zur Durchsicht und Stellungnahme.
Der Ton der E-Mail und Jessikas Verhalten gestern Abend sprachen dafür, dass von ihm erwartet wurde, dem Inhalt des Entwurfs zuzustimmen, gleichgültig, ob er Einwände hatte oder nicht. Die Anwaltskanzlei war bekannt für ihre Kompetenz in Familienrechtsfällen. Er wusste, dass er sich auf dünnem Eis bewegte. Im Familienrecht kannte er sich zwar kaum aus, aber seine Kenntnisse genügten, um zu erkennen, dass die Gütertrennungsvereinbarung, die ihm ins Gesicht leuchtete, ein ganz anderes Format besaß als der Entwurf, den er zusammengeschustert hatte. Der Vertrag war bis ins kleinste Detail ausgefeilt.
Das Einzige, was ihm hier noch zugestanden wurde, war das Recht, sein eigenes Anwaltsbüro weiter in den Konkurs zu treiben; weit entfernt von finanziellen Mitteln, die es ihm ermöglichten, eine neue Wohnung in einer Gegend zu finden, in der er sich vorstellen konnte zu wohnen.
Robert bekam einen Tunnelblick, ihm wurde schwindelig. Vor den Fenstern stand eine Stuhlreihe. Blinzelnd sank er auf einen Sitz, schloss die Augen, verbarg das Gesicht in den Händen und versuchte, seine Nerven in den Griff zu bekommen. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen, beruhigte sich aber, als er sich auf seine Atmung konzentrierte. Er würde dieses Tief überstehen. Das Schlimmste war bald vorbei, und früher oder später würde er wieder lachen können, auch wenn sein letztes Lachen so lange zurücklag, dass er kaum noch wusste, wie das ging.
Sein Handy vibrierte. Er öffnete die Augen und sah, dass ihm jemand eine SMS geschickt hatte. Das war ungewöhnlich, normalerweise erhielt er E-Mails. Mit einem Anflug von Panik klickte er die Nachricht an.
»Was zur Hölle?!«, fluchte er laut. Rasch blickte er sich um, ob jemand seinen Ausruf gehört hatte. Doch niemand schien reagiert zu haben. Er las die Textnachricht ein zweites Mal.
Es war ein Foto, ein Screenshot aus dem Internet. Von einem bräunlichen Skelett in einer roten Mädchenjacke. Das Bild, das gestern in sämtlichen Nachrichten zu sehen gewesen war. Die Tatsache, dass es jemand direkt auf sein Handy geschickt hatte, ließ seinen Mund trocken werden, während er die knappe Begleitzeile las.
Du weißt, wer das ist.
Was hatte das zu bedeuten? Als jemand ihm vorsichtig auf die Schulter tippte, schrak er zusammen und presste das Display instinktiv an die Brust.
»Entschuldigung«, sagte eine zierliche junge Frau mit einem Piercing in der Unterlippe. »Ich wollte Sie nicht erschrecken, aber sind Sie vielleicht mein Anwalt?«