18

Maria blickte aus dem Fenster. Im Dunkeln war ihr kleines Rasenviereck von gräulich grüner Farbe und glich eher feuchtem Kunstrasen als Gras. Der Asphalt glänzte schwarz im Schein der Straßenlaternen. Das Licht flackerte leicht und gab ihr das Gefühl, in der Kulisse eines Low-Budget-Thrillers zu stehen. Schaudernd wich sie vom Fenster zurück.

Mistel maunzte und stupste ihr auffordernd ans Schienbein. Maria nahm sie auf den Arm und küsste sie zwischen die Ohren. »Alles gut, meine Süße, alles wird wieder gut«, murmelte sie. Mistel begann zu schnurren, und das kehlige Geräusch beruhigte ihre überspannten Nerven, bis sie eine dunkel gekleidete Gestalt entdeckte, die durch den Regen hastete und in ihre Einfahrt einbog.

Einen Augenblick später hallte der schrille Ton der Türklingel durchs Haus. Als sie in die Diele ging, um zu öffnen, behielt sie Mistel wie einen Schutzschild auf dem Arm. Die Katze zappelte leicht, machte aber keine Anstalten herunterzuspringen. Sie starrte an der Besucherin vorbei in den Regen hinaus und beschloss offenbar, dass es klüger war, ihren gemütlichen Platz auf Marias Arm nicht zu verlassen.

»Komm rein«, sagte Maria und schloss rasch die Tür hinter Kristina.

Kristina nahm ihre Kapuze ab.

»Was für ein Mistwetter«, prustete sie und hängte ihre Jacke an die Garderobe. »Nicht mal die Katze will vor die Tür.«

»Hat dich irgendwer gesehen?« Maria setzte Mistel auf den Fußboden und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Nein.«

Maria sah Kristina mitfühlend an. »Ich hoffe, deine Tochter wird bald gefunden.«

»Danke«, sagte Kristina. »Aber wie furchtbar Miras Verschwinden auch ist, ich fürchte, dahinter verbirgt sich eine weitaus größere Geschichte.«

Maria nickte nervös. »Komm, ich koche uns einen Tee, wenn du möchtest.«

»Das ist nicht nötig. Ich kann nicht lange bleiben.«

»Es macht keine Umstände. Ich wollte sowieso gerade einen Tee trinken.« Maria ging in die Küche. Sie brauchte etwas, an dem sie sich festhalten konnte, ein Stück Geborgenheit. Tee erfüllte dieses Bedürfnis. Kristina hingegen machte ihr Angst. Trotzdem war sie fast die gesamte Schulzeit mit ihr befreundet gewesen. Sie nahm zwei Becher aus dem Schrank und füllte lose Teeblätter in ein Teesieb. Doch nicht einmal der milde Darjeelingduft beruhigte sie. Ihre Hände zitterten, und eine ganze Menge Teeblätter fielen daneben. Sie hängte das Teesieb in die alte geblümte Porzellankanne und fegte die verschütteten Teeblätter von der Arbeitsfläche in die Spüle.

Kristina setzte sich an den Küchentisch. »Es tut mir wirklich leid, dass wir uns unter diesen Umständen wiedersehen. Nach all der langen Zeit.« Sie stützte die Stirn in die Hände und holte tief Luft. »Am besten, ich komme gleich zur Sache. Ich weiß, dass wir geschworen haben, niemals darüber zu reden, was damals geschehen ist, aber ich fürchte, wir haben keine andere Wahl.«

Maria, die gerade Wasser in den Wasserkocher füllen wollte, hielt mitten in der Bewegung inne. Kristinas Worte durchfuhren sie wie ein Blitz. Das, was damals geschehen war. Worüber sie nie wieder hatten sprechen wollen. Natürlich hatte sie befürchtet, dass das der Grund für Kristinas Besuch war, aber bis zu diesem Moment hatte sie die schwache Hoffnung gehegt, dass etwas anderes dahintersteckte. Sie hatte immer gewusst, dass das Ereignis sie eines Tages einholen würde, dieses Wissen aber tief in ihrem Bewusstsein vergraben. Maria Andersson hielt ihre Versprechen. Sie hielt Regeln ein. Das machte sie zu einer guten Polizistin. Einer guten Verkehrspolizistin, die keinen Raum für sich beanspruchte und unnötige Konflikte vermied. Sie füllte den Wasserkocher und schaltete ihn ein. Dann drehte sie sich zu Kristina um. »Ich weiß«, sagte sie mit einem Seufzer. »Seit es geschehen ist, habe ich mich vor diesem Tag gefürchtet.«

»Mir geht es genauso. Es vergeht keine Nacht, in der ich nicht ihre Augen vor mir sehe. Wie das Licht in ihnen erlischt, während sie mich ansieht. Aber wir hätten nichts tun können, niemand hätte das, ich hoffe, das ist dir klar.«

Maria schüttelte den Kopf. »Ich will nicht darüber reden.«

»Nein.«

Sie sahen sich eine Weile schweigend an. »Wissen wir, dass es wirklich ihre Überreste sind?«, sagte Maria schließlich. »Ich meine, wir wissen doch nur, dass es sich um einen Knochenfund handelt.«

»Natürlich ist es Anna«, erwiderte Kristina. »Wer sonst sollte es sein?«

Der Gedanke an Anna verursachte Maria körperliche Schmerzen. Anna war ihre Freundin gewesen. Wenn sie, Maria, damals wie vereinbart allein zum Treffpunkt gekommen wäre, wäre nichts passiert.

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Wir können es nicht wissen. Die Person, die deine Tochter entführt hat, kann doch ein anderes Skelett ausgegraben haben. Es muss nicht zwangsläufig …« Maria konnte den Satz nicht beenden. Ihren Namen nicht aussprechen.

»Warum sollte der Entführer die SMS an jeden von uns schicken, wenn er es nur auf mich abgesehen hätte? Wie sollte er überhaupt wissen, dass wir uns kennen, wenn er nicht wüsste, was damals passiert ist?«

Maria schnappte nach Luft. Der Wasserkocher begann zu brodeln und schaltete sich mit einem Klicken aus. »Aber wer außer uns sollte davon wissen? Ich meine, du und ich, wir würden nie … Und warum sollten Robert oder Erik so etwas tun?«

»Nein, wir beide würden es nicht tun«, sagte Kristina. »Aber wenn es keiner von uns vieren ist, wer sollte auf die Idee kommen, unser Geheimnis gegen uns zu verwenden?«

»Ich weiß es nicht.« Maria goss kochendes Wasser über das Teesieb und legte den Deckel auf die Kanne. Aromatischer Teeduft stieg ihr in die Nase. »Aber es muss jemand anderes sein. Keiner von uns vieren hätte einen Grund, deine Tochter zu entführen. Das ergibt keinen Sinn.«

»Er ist schon lange nicht mehr zurechnungsfähig, Maria.« Kristina machte eine Pause und zog eine Augenbraue hoch. »Das weißt du. Er ist nie damit klargekommen.«

Maria wusste, wen Kristina meinte. Erik Stiernström. Vor jenem Ereignis war Erik der Überflieger ihrer Klasse gewesen, ein Einserschüler, in den dazu noch alle Mädchen verknallt gewesen waren. Doch danach war es mit ihm bergab gegangen. Sie waren kaum in die Mittelstufe gekommen, als er anfing, Alkohol und Drogen zu konsumieren. Heute war er stadtbekannt. Nicht weil er etwas Großes geleistet hatte, sondern weil er zu den Saufbrüdern gehörte, die tagsüber lauwarmes Dosenbier auf dem Karl Johans Torg soffen.

Maria verspürte eine Woge an Zuneigung, als sie an Erik dachte. Er hatte Besseres verdient. Sie hatte versucht, ihm zu helfen. Hin und wieder war sie zu ihm durchgedrungen, doch meistens hatte er wie ein trotziges Kind den Blick abgewandt und die Ohren auf Durchzug gestellt. Vielleicht gerade weil das Hilfsangebot von ihr gekommen war. Doch sie hatte ihn schon länger nicht mehr auf der Straße gesehen.

»Was Erik angeht, habe ich mich unauffällig bei meinen Kollegen umgehört. Offenbar hat er einen Entzug gemacht und ist seit einiger Zeit clean«, sagte sie.

Kristina schnaubte. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Hast du mit ihm gesprochen?«

»Noch nicht. Was sollen wir tun?«

»Ich brauche Gewissheit.« Kristina starrte vor sich hin, während Maria Tee einschenkte. »Ich muss wissen, ob irgendein kranker Psychopath Annas Überreste in die Jacke meiner Tochter gesteckt hat.«

Marias Hände zitterten wieder. »Die Kriminaltechniker am Nationalen Forensischen Zentrum sind bestimmt schon dabei, die DNA auszuwerten. Wenn es ihre Überreste sind, werden wir es sicher bald aus den Nachrichten erfahren.«

»Darauf kann ich nicht warten. Meine Tochter ist in der Gewalt irgendeines kranken Psychopathen. Wenn Erik dahintersteckt, können wir sie vielleicht retten, lange bevor die Polizei eins und eins zusammenzählt, ohne zu riskieren, dass unser Geheimnis auffliegt. Verstehst du? Ich brauche Gewissheit.« Kristina schlug die Hände vors Gesicht. »Entschuldige«, schluchzte sie.

»Aber wie? Wir können sie doch nicht ausgraben.«

Kristina hob den Kopf, und Maria begegnete ihrem verzweifelten Blick. Das kann sie doch nicht ernsthaft vorhaben, dachte sie.

Kristina atmete tief ein. »Doch, das können wir. Und genau das müssen wir tun.«

»Nein.«

»Ist sie noch da, ist unser Geheimnis nach wie vor sicher. Ist das Grab leer, wissen wir, dass einer von uns vieren in Miras Verschwinden verstrickt ist.« Kristina sah Maria mit verweinten Augen an. »Verstehst du? Wir müssen es tun.«

Maria schluckte schwer. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann das nicht. Es muss einen anderen Weg geben.«