20

Nachdem Kristina gegangen war, blieb Maria wie erstarrt am Küchentisch sitzen. Der Tee in ihren Händen erkaltete. Erinnerungen stürmten auf sie ein. Vergeblich versuchte sie, sie ins Unterbewusstsein zurückzudrängen. Sie waren wie diese Maulwürfe, die man in Vergnügungsparks mit einem Hammer auf den Kopf schlug, um sie in ihre Löcher zurückzutreiben. Whack-a-mole. Hatte man einen erledigt, tauchten drei neue auf.

Kristina will Anna Fridhemssons Leiche ausgraben. Der Gedanke trieb sauren Magensaft ihre Speiseröhre hinauf. Etwas Schlimmeres konnte sie sich nicht vorstellen. Sie hatte schon damals die Wahrheit sagen wollen. Es war ein Unfall gewesen, nicht einmal ein Spiel, das aus dem Ruder gelaufen war. Ein unglücklicher Sturz, ein Stein an der falschen Stelle, an einem Ort, der zu abgelegen gewesen war, um rechtzeitig Hilfe zu holen. Was hätten sie tun sollen? Es war so schnell gegangen. Hätten sie damals die Wahrheit gesagt, wäre die Zeit unmittelbar danach die Hölle geworden, aber auf lange Sicht hätte ihnen niemand einen Vorwurf machen können. Doch jetzt, nachdem sie fünfundzwanzig Jahre geschwiegen hatten?

Maria verabscheute sich dafür, dass sie sich nicht getraut hatte, sich gegen die anderen durchzusetzen. Dem Rettungsdienst zu erzählen, Anna sei in der Nähe des Kraftwerks in den Fluss gestürzt, war unverzeihlich. Sie hatte geschwiegen, während die anderen die Lüge in die Welt setzten, die sie vereinbart hatten. Maria war nicht imstande gewesen zu widersprechen, obwohl es ihre Freundin gewesen war, von der sie redeten. Weil sie geschworen hatte, den Mund zu halten. Und jetzt wollte Kristina die Wahrheit im wahrsten Sinne des Wortes ausgraben. Allein der Gedanke ließ sie vor Angst erstarren. Dabei hatte Kristina recht.

Es war spät, und Müdigkeit machte die Sache nicht besser. Versteinert, wie sie war, würde sie keine Lösung finden. Als sie aufstand, um den Teebecher in den Geschirrspüler zu räumen, erklang im Obergeschoss ein lautes Poltern. Mit wild pochendem Herzen fuhr Maria herum. Das Geräusch wiederholte sich nicht. Wahrscheinlich hatte Mistel irgendwas umgestoßen, es wäre nicht das erste Mal.

»Mistel?«, rief sie vom Fuß der Treppe. »Was hast du angestellt?«

Als Mistel nicht am oberen Absatz erschien, ging sie die Treppe hinauf, bis sie begriff, was passiert war. Ihre Schritte verloren an Kraft, und sie sackte nach vorn auf die Treppe, stieß sich an den Stufen schmerzhaft die Knie.

Die Zimmertür, die sie niemals auch nur anrührte, stand sperrangelweit offen. In dem Raum war es dunkel, nur ein mattes, graues Licht fiel durchs Fenster hinein. Physisch betrachtet war der Raum leer. Hinter der Tür befand sich nichts, nicht einmal der Teppich, der einmal auf den alten Dielen gelegen hatte, war noch da. Doch innerhalb seiner Wände hallten Erinnerungen wider. Und nun saß Mistel dort drinnen, mitten auf dem Fußboden. Hatte sie sich in den Kopf gesetzt, irgendwo hineinzukommen, sprang sie so lange an der Zimmertür hoch, bis sie die Klinke erreichte und sie mit der Pfote nach unten drückte. Diese Tür hatte sie noch nie geöffnet – bis heute.

»Mistel«, lockte Maria und trommelte mit den Fingern auf die Treppenstufe, was Mistel jedoch nur mit einem desinteressierten Blick quittierte.

Maria stand mit klopfendem Herzen auf. Sie musste Mistel aus dem Zimmer bekommen und die Tür schließen. Sie ertrug es nicht, sie offen stehen zu sehen. Mit weichen Knien ging sie in den Flur hinauf und stützte sich am Türrahmen ab, während sie sich weiter bemühte, Mistel aus dem Zimmer zu locken.

Die dicke Staubschicht auf dem Fußboden war von frischen Pfotenabdrücken durchzogen. Maria versuchte zu schlucken, aber ihr Mund war vollkommen ausgedörrt. Sie schloss die Augen und atmete dreimal tief durch, dann zwang sie sich, in den Raum hineinzugehen und Mistel auf den Arm zu nehmen, die verärgert maunzte.

Rasch trat Maria wieder in den Flur hinaus, schloss die Tür hinter sich und setzte Mistel auf den Fußboden.

»Dummes Tier«, schalt sie und strich Mistel über den Rücken. »Da darfst du nicht rein, verstehst du?«

Widerwillig drehte sie sich zur Tür und betrachtete das Schlüsselloch unter der Klinke. Der Schlüssel musste noch irgendwo sein. Besser, sie schloss die Tür in Zukunft ab, damit sich dieser Vorfall nicht wiederholte.

Maria sank auf den Fußboden, lehnte den Kopf an die Wand und berührte die Tür mit den Fingerspitzen.

»Verzeih mir, Mama«, flüsterte sie.

Mistel legte eine Pfote auf ihren Oberschenkel. Maria nahm die Katze auf den Arm und weinte in ihr weiches Fell.