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Maria blieb an der Eisenbahnbrücke stehen und hielt nach Kristina Ausschau. Die meisten Leute waren inzwischen bei der Arbeit, lediglich ein paar vereinzelte Nachzügler radelten noch auf dem schmalen Fahrradweg neben den Gleisen entlang. Sie lehnte die mitgebrachte Schaufel an die Stahltür neben dem Brückenpfeiler. Unter unzähligen dilettantischen Graffitischmierereien schimmerte hier und da blankes Metall hervor. Die Eisenbahnbrücke war eine Hebebrücke, und hinter der Stahltür befand sich der Mechanismus, der die Brücke öffnete und Schiffen, die nicht unter der Brücke hindurchpassten, die Durchfahrt ermöglichte. Doch gerade war kein Schiff in Sicht, und der Schlagbaum, der Fahrradfahrer und Fußgänger daran hinderte, die Brücke zu überqueren, ragte parallel zum Brückenpfeiler in den Himmel.

Maria seufzte und blickte zur Sonne, die gerade über der Stallbackabron aufging. Während Kristina auf sich warten ließ, vertrieben erste Sonnenstrahlen die letzten Nebelschleier über dem Wasser und spendeten Marias verfrorenen Gliedern ein klitzekleines bisschen Wärme. Ein joggendes Pärchen lief an ihr vorbei, gefolgt von einer Handvoll Fahrradfahrer, doch sie nahmen weder Notiz von ihr noch von der Schaufel, die an der Stahltür lehnte. Ihr Körper kribbelte vor Nervosität, wenn sie daran dachte, was Kristina und sie vorhatten.

Schließlich entdeckte sie Kristina, die aus Richtung Spikön kam. Sie ging schnell, und ihre Miene wirkte angespannt.

»Du kommst zu spät«, sagte Maria.

»Ich kann nicht kommen und gehen, wie es mir passt«, erwiderte Kristina. »Mein Haus ist von Fotografen umlagert. Ich muss vorsichtig sein.«

Maria sah sie ernst an, dann nickte sie schweigend. Sie überquerten die Eisenbahnbrücke in Richtung des alten Industriegebiets. Die maroden Gebäude waren mit Bauzäunen umgittert. Dahinter standen Bagger und Container mit Baumaterial. Hier entstand das exklusive Neubauviertel Vårvik, mit Flusslage und Zentrumsnähe. Erst als sie das Baugebiet hinter sich gelassen hatten und weit und breit niemand zu sehen war, nahmen sie ihr Gespräch wieder auf.

»Weißt du noch, wo es ist?«, fragte Maria.

Kristina nickte. »Wie sollte ich das vergessen?«

»Keine Ahnung«, sagte Maria. Wie hatte sie es vergessen können? Die Stelle hätte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis prägen müssen. Doch als sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie Annas leblosen Körper vergraben hatten, glich es dem Versuch, eine nicht mehr existierende Website aufzurufen. Error 404 – page not found. »Ich habe alles getan, um mich nicht daran zu erinnern«, sagte sie. »Ich fürchte, es ist mir gelungen.«

Kristina sah sie an. Ihre Augen schimmerten im Sonnenlicht. »Dann bist du die Glückliche von uns«, erwiderte sie.

»Das würde ich nicht sagen«, entgegnete Maria. Sie gingen in das Waldstück zwischen dem Fluss und der Straße zum Einkaufszentrum Överby, so weit weg von Bebauung und Menschen wie möglich, ohne dass sie vom Wasser aus gesehen werden konnten. Sie waren noch immer näher an dem Baugebiet, als es Maria lieb war. Schon vor fünfundzwanzig Jahren war dieses Waldstück nicht groß gewesen, und jetzt, nachdem es vor den beginnenden Bauarbeiten gerodet worden war, war nur noch die Hälfte des damaligen Baumbestands vorhanden. Maria hatte das Gefühl, durch eine dystopische Filmkulisse zu laufen. Die Betongerippe, die in naher Zukunft zu Wohnhäusern werden sollten, ragten wie monströse Schatten in den Himmel, Wind fuhr durch die Baumkronen, und das Geräusch raschelnder Blätter vermengte sich mit dem Lärm anspringender Baumaschinen. Offensichtlich hatten die Arbeiter ihre Frühstückspause beendet. Doch noch hatte die Zivilisation die Natur nicht besiegt. Der Wald war ein lebendiges Wesen, das alles tat, um sich die Menschen vom Leib zu halten. Scharfe Zweige peitschten ihr ins Gesicht. Knorrige Wurzeln umschlangen ihre Füße, das Moos verbarg tiefe Fallgruben und machte Stock und Stein glatt wie Schmierseife.

Marias Gedanken schweiften zu dem Wäldchen unterhalb des Wasserfalls, wo ihre Kollegen und freiwillige Helfer noch immer unermüdlich nach Mira suchten. Sie mussten dasselbe Gefühl haben, das Gefühl, dass die Natur, von der die Menschheit einst ein Teil gewesen war, sich in einen Feind verwandelt hatte, der sich für das rächte, was jahrhundertelanger Raubbau ihm angetan hatte.

»Hier«, sagte Kristina ernst. »Hier ist sie abgestürzt.« Sie deutete mit dem Kopf auf eine felsige Anhöhe.

Maria blieb stehen und blickte den moosbewachsenen Abhang empor. Er war höchstens zwei Meter hoch, doch das hatte genügt. Sie hatte Anna stürzen sehen. Sie hatte gesehen, wie sie hinuntergestürzt war, um nie wieder aufzustehen. Sie sah Annas Gesicht vor sich. Und ihr eigenes zwölfjähriges Gesicht, das zu Tode verängstigt von oben auf Anna hinabgestarrt hatte, umringt von den anderen, ohne dass einer von ihnen den Versuch unternommen hatte, Anna zu helfen.

»Kommst du?« Kristina ging rasch weiter, vorbei an einigen großen Findlingen. Maria zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart und folgte ihr. Als sie Kristina eingeholt hatte, deutete die auf eine Stelle des moosbedeckten Waldbodens, gut zwanzig Meter von der Anhöhe entfernt.

»Bist du sicher?«, fragte Maria.

»Nicht hundertprozentig. Aber ungefähr hier muss es sein. Die Stelle ist genauso gut wie jede andere.«

Maria nickte und hielt Kristina die Schaufel hin. »Bitte.«

Kristina drehte sich um und sah sie entgeistert an. »Ist das dein Ernst? Hast du vergessen, dass meine Tochter entführt wurde? Was, wenn der Entführer sie umgebracht und sie hier vergraben hat?«

Maria schüttelte den Kopf. »Du wolltest doch das Grab öffnen. Du wolltest Gewissheit.«

»Das stimmt. Aber ich muss mich darauf einstellen, mit einem Trauma zu leben, sollten wir etwas finden, das wir nicht finden wollen. Ich kann das Grab nicht öffnen.«

Maria seufzte. Sie waren hier, Zögern hatte keinen Sinn. Sie stieß die Schaufel in die Erde. Es ging leichter als gedacht. Statt wie erwartet auf Felsen zu treffen, ließ die Erde sich relativ mühelos lockern. Nach einigen Spatenstichen stieß sie unter der Moosdecke auf dunklere, von Wurzelwerk durchdrungene Erdschichten. Doch Annas Überreste kamen nicht zum Vorschein. Maria trat zurück und grub an einer anderen Stelle. Diesmal traf die Schaufel auf Stein.

Hier war Anna auch nicht.

Kristina deutete auf einen Punkt etwas näher am Berghang. »Vielleicht da drüben?«

Maria hatte nicht die Kraft zu protestieren. Sie ging zu der Stelle, auf die Kristina zeigte, und begann zu graben. Ihre Muskeln schmerzten, und ihre Hände zitterten vor Anstrengung. Es fühlte sich an wie eine grausame und perfide Marter, die per UN-Konvention verboten sein sollte. Trotzdem setzten sie die Suche fort, und Maria grub an den Stellen, auf die Kristina zeigte, bis die Schaufel auf etwas stieß, das kein Stein war. Der Stoß fuhr wie ein Blitzschlag durch ihren Körper.

»Hier ist was«, sagte sie atemlos. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Kristina und Maria sahen sich an, eine Mischung aus Angst und Erregung im Blick. Hatten sie gefunden, wonach sie suchten?

Sie hatten keinen Sarg gehabt, nicht einmal eine alte Kiste, in der sie Anna hätten begraben können. Sie hatten einfach eine Grube ausgehoben und sie hineingelegt. Dann hatten sie die Stelle mit Moos bedeckt, hatten Anna gewissermaßen zugedeckt, mehr nicht. Sie waren überzeugt gewesen, dass nach ihrer Lüge, Anna sei unterhalb des Wasserkraftwerks in den Fluss gestürzt, niemand im Wald nach ihr suchen würde. Alle würden glauben, Anna sei von der starken Strömung unwiderruflich in die Tiefe hinabgerissen worden.

»Worauf wartest du? Grab weiter.« Kristina deutete auf den Boden. Ihr Gesicht wirkte blass, als die Sonne hinter einer Wolke verschwand. Maria nickte und stocherte vorsichtig mit der Schaufelspitze in der Erde. Es fühlte sich falsch an, aber in ihre Angst mischte sich Neugier. Sie grub um den Gegenstand herum, und kurz darauf hatte sie eine große Kiste freigelegt.

»Das kann nicht stimmen«, sagte sie.

»Aber das ist die richtige Stelle, ich bin ganz sicher«, sagte Kristina. »Mach die Kiste auf.«

»Bist du sicher?«, fragte Maria.

»Ich kann nicht länger auf Antworten warten. Mach sie auf, verflucht.«

»Okay.« Maria tastete an den erdverkrusteten Kanten der Kiste entlang, bis sie im Deckel einen Spalt fand. Sie zwängte das Schaufelblatt in die Ritze und stemmte den zugenagelten Deckel nach oben. Das halb morsche Holz gab knirschend nach, der Deckel sprang auf, und ein fauliger Verwesungsgestank stieg empor.

Kristina fiel auf die Knie und blickte ins Innere der Kiste. Mit zugehaltener Nase folgte Maria ihrem Blick. Auf dem Boden der Kiste lagen vier im Kreis angeordnete tote Vögel. Eine Amsel, eine Meise, eine Elster und ein Spatz mit gebrochenem Flügel. Inmitten des Kreises lag ein Handy mit pinkfarbenem Gehäuse.

»Was bedeutet das?« Maria sah Kristina an.

Kristina antwortete nicht. Sie zitterte am ganzen Körper und presste die Hände vor den Mund. Ihre Augen waren aufgerissen, als hätte sie ein Gespenst gesehen, und schwammen in Tränen. Sie nahm eine Hand vom Mund und deutete auf das Handy. »Mira«, keuchte sie. »Das ist Miras Handy.«

Mit zitternden Händen griff Maria nach dem Telefon. Als sie es in die Hand nahm, leuchtete das Display auf. Der Akku war fast leer. Trotzdem war offensichtlich, dass die Person, die Miras Handy in die Kiste gelegt hatte, es vorher aufgeladen hatte. Die Person hatte gewollt, dass sie das Handy fanden, bevor der Akku sich entlud.

Auf dem Display stand eine Nachricht.

Ihr Pechvögel werdet bezahlen, sonst stirbt sie.