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Kristinas Mundhöhle war staubtrocken, und ihr Kopf fühlte sich schwer wie Blei an. Widerwillig rappelte sie sich vom Bett auf und ließ die Decke achtlos zur Seite fallen. Sie blinzelte ins Licht, das durchs Fenster ins Schlafzimmer fiel. Sie hatten die Jalousien nicht geschlossen, hier oben konnte ihnen niemand in die Räume glotzen, niemand Fotos von ihnen machen.

Johan und sie hatten sich noch einmal hingelegt, um nach der durchwachten Nacht ein wenig Schlaf nachzuholen. Offensichtlich war sie tatsächlich eingeschlafen. Das Licht vor dem Fenster hatte sich verändert, Kristina blickte auf die Uhr, sie hatte zwei Stunden geschlafen. Die Aussicht aus dem Schlafzimmer war die gleiche wie aus Miras Zimmer im Erdgeschoss. Wolken spiegelten sich im Kanal. Am gegenüberliegenden Ufer gingen Menschen auf der Promenade spazieren. Es erschien ihr wie ein Stück Geborgenheit, wie eine Verheißung, wie das Leben sein könnte, sobald wieder Normalität einkehrte. Doch bis auf Weiteres hatte das Spiel gerade erst begonnen. Wenn es vorbei war, wäre sie von den Lügen befreit, die sie an diesen Punkt geführt hatten, und sie könnte endlich ein neues Buch schreiben.

Kristina drehte sich zu Johan um. Er schlief, fest in seine Decke gehüllt, das braune Haar wirr auf dem Kopfkissen verteilt. Sie beschloss, ihn schlafen zu lassen. Er brauchte es mehr als sie. Diese ganze Geschichte setzte ihm fürchterlich zu, mehr als ihr. Trotzdem lebte er in glücklicher Unkenntnis von den Lügen, die sie seit ihrer Schulzeit mit sich herumtrug.

Und er würde sie nie erfahren. Genauso wenig wie die Lügen, die neu hinzugekommen waren.

Kristina verließ das Schlafzimmer und ging in die Küche hinunter. Sie schaltete die Kaffeemaschine an und wühlte dann in den Schränken, bis sie die Flasche Gin fand, die Johan vor ihr versteckt hatte. Johan war goldig, er wollte sie daran hindern, ihre Gelüste auszuleben. Inzwischen sollte er wissen, dass das nicht möglich war, oder zumindest so viel Verstand besitzen, den Alkohol in den Ausguss zu kippen, statt ihn vor ihr zu verstecken. Aber vermutlich wollte er hin und wieder selbst einen Schluck trinken. Kristina goss einen ordentlichen Schuss Gin in ihren Kaffeebecher und stellte die Flasche wieder dorthin zurück, wo Johan sie vor ihr sicher wähnte. Aber Gin mit Kaffee schmeckte scheußlich, also trank sie den Gin pur, goss sich anschließend einen schwarzen Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch, um Maria anzurufen.

»Ja?«, erklang Marias ängstliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Hast du Erik erreicht?«, fragte Kristina und trank einen Schluck Kaffee.

»Ja, zu guter Letzt. Er ist gerade in eine eigene Wohnung gezogen.«

»Schön für ihn. Also ist er momentan tatsächlich clean?«

Na wunderbar. Junkie-Erik war clean, während Kristina Stare, der gefeierte Star der schwedischen Krimiszene, schon morgens die Flasche aufschraubte. Die Ironie schmeckte bitter wie Gin.

»Er will sich nicht mit uns treffen.«

»Hast du ihm verklickert, dass er keine andere Wahl hat?«

Maria seufzte. »Nein. Aber ich habe ihm gesagt, was Sache ist, ohne ihm den Schwarzen Peter zuzuschieben.«

»Also kommt er?«

»Ich denke schon. Was ist mit Robert?«

In Kristinas Brust begann es zu kribbeln. Sie verspürte den Drang, sich zu räuspern, spülte ihn jedoch mit einem Schluck Kaffee herunter. »Er kommt«, log sie. In Wahrheit hatte sie nicht die geringste Ahnung, aber sie vertraute darauf, dass Robert es nicht fertigbrachte, nicht auf der Bildfläche zu erscheinen.

»Mit wem redest du?« Kristina fuhr herum. Johan stand in der Küchentür und musterte sie mit forschendem Blick.

»Ich muss auflegen«, sagte sie, drückte Maria weg und lächelte Johan so ungezwungen wie möglich an. »Mit einer Freundin«, erwiderte sie. Was in gewisser Weise stimmte.

»Aha.«

»Freunde fragen sich, wie es mir geht. Alle machen sich Sorgen, Johan. Ich habe nicht die Kraft, mit jedem zu sprechen. Aber hin und wieder muss ich mit jemandem reden.«

»Du kannst mit mir reden.« Johan presste die Kiefer aufeinander.

Kristina legte den Kopf schräg und begegnete seinem Blick. In ihr tobte ein Widerstreit der Gefühle. Bald würde sie Johan nicht mehr belügen müssen. Natürlich gab es auch dann noch Dinge, die er nie erfahren durfte, aber das war nicht dasselbe. Diese Geschichte würde bald ausgestanden sein, und vielleicht würde dann alles wieder zum Alten zurückkehren.

»Ich rede immer mit dir, Liebling«, sagte sie. »Ich habe Kaffee gekocht, wenn du welchen möchtest.«

»Danke.« Johan ging zur Kaffeemaschine.

Kristina stellte ihren Becher in den Geschirrspüler und strich Johan anschließend über den Rücken. »Ich mache einen Spaziergang«, sagte sie. »Ich brauche frische Luft.«

Johan nickte stumm.