30

Robert ging vom Hotel zu Fuß zum Wasserfall. Es war nicht weit, trotzdem holten ihn die Kindheitserinnerungen unterwegs ein. Als er das Tosen der Wassermassen hörte, die durch eine Turbine ins Innere des Wasserkraftwerks geleitet wurden, fiel ihm das alljährliche Sommerspektakel ein, wenn die Schleusen während der »Tage des Wasserfalls« geöffnet wurden und die Wassermassen des Göta älv über die Wasserfälle in das alte Flussbett hinabstürzten; so lange er zurückdenken konnte, hatte er diesem Schauspiel beigewohnt. Robert blickte über den Fluss auf die ein paar Hundert Meter entfernte Oskarsbron. Wie oft hatte er da oben gestanden, neben einer der goldenen Kronen am Brückengeländer, und darauf gewartet, dass die Schleusentore geöffnet wurden? Als er älter geworden war, hatte er dort Silvester gefeiert, mit Feuerwerksraketen, die am Himmel über dem brodelnden Wasser explodierten, und pompöser Musik, die aus den Lautsprechern des Wasserkraftwerks dröhnte.

Er wandte den Blick nach vorn, in die Gegenwart, und lief die Strömkarlsbron entlang, mit den Dammschleusen auf der linken und der trügerischen Strömung des Kanals auf der rechten Seite. Vom Fußgängerweg wirkte die Skulptur des Strömkarl wie eine steinerne Kuppel, doch vom Wasser aus ließ sich die Stirn eines gigantischen Hauptes erkennen, das aus dem Wasser emporragte. Der Strömkarl bewachte wie eh und je den nördlichen Flusslauf in Richtung Vänern.

Neben der Skulptur lehnte eine Frau am Brückengeländer. Ihr Gesicht war unter einer Kapuze verborgen. Als Robert näher kam, trat sie ein paar Schritte vor und streifte die Kapuze ab. »Robert?«, fragte sie und legte den Kopf auf die Seite.

Robert betrachtete sie forschend. Ihre Haare waren von einem dunkleren Blond, als er es in Erinnerung hatte, aber es war zweifellos Kristina. Einerseits hatte sie sich kein bisschen verändert, andererseits doch. Erinnerungen an Kristina als Teenager vermischten sich mit offiziellen Autorenfotos und Talkshowauftritten. Sie war nie eine Hochleistungssportlerin gewesen, aber im Lauf der Jahre hatte sie etliche Beziehungspfunde zugelegt. Robert ertappte sich bei dem Gedanken, dass sie ihr standen. Tatsächlich sah sie in seinen Augen besser aus, als er erwartet hatte.

»Kristina?«, fragte er. »Wo sind die anderen?«

Sie zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Maria wollte kommen, aber wer weiß, was Erik vorhat.«

Robert nickte. »Wie … wie geht es dir?«

Kristina sah ihn an und schüttelte den Kopf. Er bemerkte die dunklen Ringe unter ihren Augen und die Krähenfüße in ihren Augenwinkeln. »Du hast dich nicht verändert«, sagte sie. »Feinfühlig wie eh und je. Wie soll es mir wohl gehen?«

Robert hob die Hände. »Entschuldige.«

»Denk das nächste Mal ein bisschen nach«, fauchte Kristina, trotzdem lächelte sie. »So unglaublich es klingt, ich habe dich vermisst.«

»Dito.«

Als hinter ihnen Schritte erklangen, schrak Robert zusammen. Kristina setzte rasch ihre Kapuze auf und senkte den Kopf, aber es war Maria, die auf sie zuhielt. Robert erkannte sie sofort. Von ihrer Kleidung abgesehen hatte sie sich nicht verändert, als wäre eine erwachsene Seele in den Körper eines Mädchens geschlüpft. Ihr aschblondes Haar war zu der gleichen Pagenfrisur geschnitten, die sie schon während der Schulzeit getragen hatte.

»Hallo«, sagte Kristina und streifte ihre Kapuze ab. »Kommt Erik?«

»Ich weiß es nicht.« Maria hob die Schultern. »Seit ich bei ihm gewesen bin, habe ich nichts mehr von ihm gehört. Ich habe ihm eine SMS mit Ort und Uhrzeit geschickt, aber er hat nicht geantwortet.«

Kristina verdrehte die Augen. »War er betrunken?«

»Er war nüchtern, als ich gegangen bin. Vielleicht sind wir ihm einfach egal.« Maria nickte Robert zu. »Du bist jedenfalls da. Dann sind wir zu dritt.«

»Wir müssen zu viert sein.« Seufzend massierte Kristina ihren Nasenrücken. »Wir müssen jetzt zusammenhalten.«

»Als hätten wir das bisher getan«, erwiderte Maria.

»Was hast du eigentlich erwartet?«, fragte Robert. »Erik liegt wahrscheinlich besoffen oder stoned in irgendeinem Hauseingang rum.«

Maria bedachte ihn mit einem eiskalten Blick. »Mir ist klar, dass du das glaubst, aber du kennst ihn nicht. Erik ist clean, schon lange. Er bekommt sein Leben wieder in den Griff.«

»Na klar.« Robert grinste verächtlich. »Genau wie meine Mandanten.«

»Ich sagte doch, du kennst ihn nicht«, wiederholte Maria.

»Können wir uns bitte alle zusammennehmen«, sagte Kristina. »Keinem von uns gefällt diese Situation, aber wir sind hier, um zu besprechen, wie ich meine Tochter zurückbekomme.«

Robert nickte und starrte auf den Asphalt zu seinen Füßen. Kristina hatte recht. Dies war nicht der geeignete Moment, um alte Konflikte aufflammen zu lassen.

»Wir haben alle die gleiche SMS bekommen«, fuhr Kristina fort. »Wer auch immer sie geschickt hat, weiß, was damals mit Anna passiert ist.«

»Wie kannst du da so sicher sein?«, widersprach Robert. »Die Polizei hat das Skelett noch nicht identifiziert. Es könnte genauso gut jemand anderes sein.«

»Nein, es kann nicht jemand anderes sein«, entgegnete Kristina. »Wir wissen es. Es ist Anna.«

»Kristina und ich haben ihr Grab geöffnet.« Maria trat von einem Fuß auf den anderen. »Annas Leiche war weg. An ihrer Stelle lagen dort vier tote Vögel.« Marias Miene verriet, wie sehr sie gegen ihr Unbehagen ankämpfte. Robert spürte, dass ihm ein kalter Schauer den Rücken hinablief.

»Und Miras Handy.« Kristinas Stimme versagte. Schluchzend zog sie Miras Telefon aus der Tasche und zeigte es ihm. »Die Person, die Mira entführt hat, hat uns auch diese SMS geschickt.«

»Das ist absurd.« Robert schüttelte den Kopf. »Woher wollt ihr das wissen? Die SMS kam von einer unbekannten Nummer, garantiert von irgendeinem Kartenhandy.«

Kristina sah ihn an. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Nein, es war Miras Nummer.«

Der Boden schwankte unter Roberts Füßen. »Das ist unmöglich.«

»Doch. Die Nachricht kam von Miras Handy«, wiederholte Kristina. »Von diesem Handy.«

»Die Person, die Mira entführt hat, weiß, was damals passiert ist«, sagte Maria. »Sie weiß, wo wir Anna begraben haben. Und dafür gibt es nur eine Erklärung: Einer von uns hat geredet.«

Robert schüttelte den Kopf. »Das würde keiner von uns tun. Das wäre Wahnsinn. Versteht ihr, welche Konsequenzen das hätte?«

»Natürlich. Aber denk nach«, sagte Kristina. »Wir vier sind die Einzigen, die davon wissen. Und jetzt verwendet irgendwer unser Geheimnis gegen uns. Irgendeiner von uns muss geredet haben.«

»Ich war es jedenfalls nicht«, sagte Robert. »Wenn ihr das glaubt, irrt ihr euch.«

»Ich war es auch nicht«, sagte Maria.

Kristina lachte sarkastisch. »Und Gott weiß, dass ich es auch nicht war.«

Robert zuckte die Schultern. »Entschuldigt, aber bin ich der Einzige, der findet, dass es ganz offensichtlich ist, wer geredet haben muss?«

Schritte erklangen auf dem Asphalt. Robert schrak zusammen, und alle drei blickten sie auf den Mann, der auf sie zukam. Eine Zigarette glomm zwischen seinen Fingern, und als er redete, quoll Rauch aus seinem Mund.

»An eurer Stelle wäre ich ein bisschen leiser«, sagte Erik und inhalierte einen tiefen Zug. »Man hört euch aus fünf Kilometern Entfernung.«

»Erik«, stammelte Maria. »Wir dachten, du würdest nicht kommen.«

»Nein. Aber jetzt bin ich hier. Der geborene Sündenbock. Wer sollte sonst auspacken, wenn nicht der erbärmliche Junkie?«

»So hat das keiner von uns gemeint«, begann Maria, doch Erik fiel ihr ins Wort.

»Aber das ist es, was jeder von euch denkt, oder etwa nicht? Das ist die bequemste Lösung. Aber ihr seid auf dem Holzweg, ich habe kein Wort gesagt.« Noch ein Zug, dann warf er die brennende Kippe auf den Boden. »Aber einer von uns lügt.«

Sie sahen einander schweigend an. Robert schluckte schwer. Erik hatte recht. Einer von ihnen log. Er hob die Arme. »Ich bin es jedenfalls nicht. Wenn die Wahrheit über Anna ans Licht kommt, würde ich alles verlieren. Das kann ich mir nicht leisten.«

Erik lachte, fischte eine neue Zigarette aus einer zerknautschten Schachtel und klemmte sie in den Mundwinkel. »Ich verliere rein gar nichts, wenn die Wahrheit rauskommt«, sagte er und zündete die Zigarette an.

»Das stimmt nicht«, widersprach Maria. »Du hast mehr zu verlieren als wir anderen zusammen. Dein neues Leben. Wenn die Wahrheit rauskommt, ist alles, wofür du gekämpft hast, sinnlos. Im Gegensatz zu mir, ich habe nicht viel im Leben, aber ich habe unser Geheimnis für mich behalten, weil ich es geschworen habe.«

Kristina schüttelte den Kopf. »Vergesst nicht, dass meine Tochter entführt wurde. Ich bin wohl die Einzige aus unserem Bund, die über jeden Zweifel erhaben ist.«

Robert kam sich vor, als säße er mit einem seiner Mandanten in einem Vernehmungsraum. Ich schwöre, ich war es nicht. Er wandte sich an Kristina.

»Hier sind wir«, sagte er. »Alle vier. Was hast du erwartet, Kristina? Dass der Schuldige vortritt und gesteht, wie in einem alten Agatha-Christie-Krimi?«

Kristina schnaubte. »Natürlich nicht. Aber wir müssen irgendwo anfangen. Okay, irgendwer von uns hat geredet. Wer, muss ich ehrlich gesagt nicht wissen. Ich will nur, dass meine Tochter heil und gesund nach Hause kommt.«

Roberts Augen funkelten.

Das waren die ersten gescheiten Sätze, seit sie hier zusammengekommen waren.