35

Die letzte Kippe war auf halbem Heimweg aufgeraucht, und anstelle des Nikotins kratzte nun die Kälte im Hals. Erik schob die geballten Fäuste in die Taschen seiner Jeansjacke. Doch in dieser scheißkalten Nacht half das nicht viel.

Warum war er bloß so dämlich gewesen, zu diesem Treffen zu gehen? Er hätte zu Hause bleiben, sich von den anderen fernhalten sollen. Er beschloss, die Abkürzung über den Friedhof zu nehmen. Der Gehweg, der sich zwischen den Grabsteinen hindurchschlängelte, glänzte regennass. Hier und da flackerten vereinzelte Grablichter.

Als er schließlich in seinem Treppenaufgang stand und auf den Fahrstuhlknopf drückte, waren seine Finger taub vor Kälte. Zitternd verschränkte er die Arme vor der Brust, während die Wärme langsam in seine Glieder zurückkehrte. Vor seiner Wohnungstür zog er den Schlüssel aus der Jackentasche und schob ihn gewaltsam ins Schloss, wie ein Messer, dass er jemandem in den Bauch rammte.

Doch das Schloss hakte mehr, als er es in Erinnerung hatte, fast, als passe der Schlüssel nicht. Stirnrunzelnd blickte er sich um. War er im falschen Stockwerk ausgestiegen? Aber auf der Briefkastenklappe stand sein Name, und die Schmierereien neben der Tür waren dieselben. Er drückte die Klinke nach unten, die Tür ging auf. Doch es blieb das unbehagliche Gefühl, dass etwas nicht stimmte.

Als er die Deckenlampe in dem kleinen Flur anknipste, packte ihn jemand am Handgelenk. Ein kräftiger Ruck brachte ihn aus dem Gleichgewicht, er bekam einen Tritt in die Kniekehlen und stürzte zu Boden. Erik spürte ein Knie zwischen seinen Schulterblättern, dann drehte ihm jemand den Arm auf den Rücken.

»Willkommen zu Hause«, zischte eine fremde Stimme an seinem Ohr.

»Ich sehe, dass du jetzt zur feinen Gesellschaft gehörst«, erklang eine bekannte Stimme. Jörgen.

Das Gewicht auf seinem Rücken drückte ihm die Luft ab. »Was willst du?«, presste Erik mühsam hervor.

Jörgen ging in der Wohnung auf und ab, als würde er über etwas nachdenken, dann nahm er Eriks Tagebuch vom Tisch und blätterte geistesabwesend darin herum. Erik begann sich zu wehren, aber es war sinnlos. Der Mann, der ihn festhielt, drehte seinen Arm nur noch fester nach hinten und erhöhte den Druck seines Knies zwischen Eriks Schulterblättern, bis er seine Gegenwehr einstellte.

»Ich hab noch keine Kohle«, keuchte er.

Jörgen seufzte und ließ das Tagebuch auf den Boden fallen. »Nein, das ist mir klar. Ich weiß, so viel Geld kann man nicht über Nacht auftreiben. Das können nicht mal stinkreiche Pinkel. Der Zaster ist ja angelegt, in Fonds und Aktien und diesem ganzen Kram.« Er nahm die leere Whiskyflasche von der Spüle, ging vor Erik in die Hocke und hielt sie hoch wie ein Beweisstück. »Aber Alk ist eine schlechte Investition, wenn du schuldenfrei werden willst.« Jörgen legte den Kopf schief und stellte die Flasche vor Erik auf den Boden. Dann stand er auf, wandte Erik den Rücken zu und sah aus dem Fenster.

»Ich verabscheue Gewalt«, sagte er. »Fremder Schmerz geht mir an die Nieren. Aber hin und wieder erfüllt Gewalt einen Zweck, Erik. Damit Leute den Ernst verstehen. Kapierst du?«

»Du hast mir eine Woche gegeben«, keuchte Erik. Ein höllischer Schmerz schoss durch seine Schulter, als Jörgens Gorilla ihm abermals den Arm verdrehte. Er stöhnte.

»Das stimmt«, erwiderte Jörgen. »Aber du weißt, wie das ist. Ich habe auch Kosten. Irgendwer verlangt immer sein Geld. Mein Vermieter, die Stadtwerke. Meine Lieferanten.« Er seufzte. »Aber niemand soll mir vorwerfen, ich sei kein Ehrenmann. Du kriegst deine Woche.«

»Ich schwöre, bis dahin habe ich die Kohle zusammen.«

»Das hoffe ich. Aber du weißt, mein Angebot steht.«

»Lieber krepier ich.« Erik unternahm einen neuen Befreiungsversuch.

»Das wäre wohl unnötig«, sagte Jörgen. »Aber warte!« Er hob die Arme. »Fast hätte ich es vergessen. Ich hab dir ein Einzugsgeschenk mitgebracht.« Erik ließ Jörgen nicht aus den Augen, während der etwas aus einer Tasche auf der Küchenzeile nahm. Es war eine Flasche Wodka, die er vor Eriks Nase auf den Fußboden stellte.

»Die kommt doch genau richtig, wo du deinen Whisky ausgetrunken hast. Ein kleines Schlückchen hat noch niemandem geschadet, oder irre ich mich?«

»Das Zeug kannst du behalten«, sagte Erik so trotzig, wie er es wagte. »Ich hab nicht vor, den Scheiß zu trinken.«

»Jetzt sei nicht undankbar. Aber ganz, wie du willst.« Jörgen ging wieder vor ihm in die Hocke und bohrte seine Augen in Eriks. »Mir ist scheißegal, was du tust, solange ich bis Sonntag meine fünfundachtzigtausend kriege.«

»Ich dachte, es wären fünfundsiebzigtausend?«, sagte Erik.

»Ich hab die Zinsen vergessen.« Jörgen richtete sich auf und blickte auf Erik herunter. »Besser, du beeilst dich, damit sie nicht noch weiter steigen.«

Demonstrativ machte er einen Schritt über Erik hinweg und verschwand im Treppenhaus. Jörgens Gorilla drehte ihm ein letztes Mal den Arm so fest auf den Rücken, dass Erik schwarz vor Augen wurde, dann ließ er ihn los und verschwand ebenfalls.

Erik konnte den Arm nicht anheben, schlaff fiel er auf den Boden zurück. Seine Schulter schmerzte höllisch, aber soweit er es beurteilen konnte, war sie nicht gebrochen. Er hatte Glück gehabt. Wenn Jörgen es befohlen hätte, wäre seine Schulter jetzt ausgerenkt gewesen. Die Flasche Wodka war eine unmissverständliche Botschaft. Jörgen wollte nicht, dass er clean blieb, er wollte ihn als Kunden behalten, ihn zwingen, für ihn zu arbeiten, damit Jörgen seinen Stoff nicht selbst auf der Straße verticken musste.

Mühsam kam Erik auf die Beine, schloss die Wohnungstür sorgfältig ab und stellte die Wodkaflasche auf die Spüle. Da blieb er stehen und starrte die klare Flüssigkeit an. Wahrscheinlich Schmuggelware. Er würde keinen Tropfen davon trinken, doch als er den Inhalt in die Spüle kippen wollte, versagten seine Muskeln den Dienst, und er starrte die Flasche weiter an, während er fieberhaft nach einer Lösung suchte.

Wie zum Teufel sollte er bis Sonntag fünfundachtzigtausend Kronen auftreiben?