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Robert hatte die ganze Nacht wie erstarrt im Bett gelegen, in einem Niemandsland zwischen Schlaf und Bewusstsein, bis ihn ein menschliches Bedürfnis ins Badezimmer trieb. Anschließend stellte er sich unter die heiße Dusche und drehte sie erst ab, als seine Haut feuerrot brannte und Kondenswasser von den Kacheln tropfte.

Mit dem Arm rieb er den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken frei und musterte sein Gesicht. Seine Frisur, in der für gewöhnlich jede Strähne an ihrem Platz lag, stand ihm wirr vom Kopf ab. Als er ein einzelnes weißes Haar entdeckte, kniff er unwillig die Augen zusammen und riss es mit einem Ruck aus. Dann fuhr er sich übers Kinn. Kurz spielte er mit dem Gedanken, sich zu rasieren, verwarf ihn jedoch wieder. Zu viel Bartwuchs wirkte ungepflegt, aber ein Dreitagebart betonte seine markante Kinnpartie und wirkte sexy – fand er jedenfalls. Und momentan brauchte er jedes bisschen Selbstvertrauen, das er zusammenkratzen konnte. In der Hoffnung auf einen Egoboost spannte er seine Bizepse an, aber er war seit Wochen nicht im Fitnessstudio gewesen, und der Schuss ging nach hinten los.

Als er in den Speisesaal kam, räumte das Hotelpersonal bereits das Frühstücksbüffet weg. Unter dem missbilligenden Blick einer Angestellten, die sich am Ende ihrer Schicht mühsam ein Lächeln abrang, schnappte er sich zwei Croissants und eine Tasse schwarzen Kaffee und setzte sich an einen verkrümelten Tisch. In dem Moment klingelte sein Handy. Er starrte auf die unbekannte Nummer im Display, bis das Klingeln verstummte, dann checkte er seine E-Mails. Überwiegend Werbung für irgendwelche Seminare. Keine neuen Pflichtmandate. Wunderbar. Er hatte genug andere Sorgen. Während er den Posteingang durchscrollte, traf eine neue E-Mail ein. Von einer Johanna Granwall. Der Name kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte ihn nicht einordnen. Neugierig öffnete er die Vollansicht. Und da fiel es ihm ein. Johanna Granwall war Jessikas Anwältin.

Sie habe mehrmals versucht, ihn telefonisch zu erreichen, schrieb sie. Es gehe um die Gütertrennungsvereinbarung.

Das Croissant quoll in seinem Mund auf. Gütertrennungsvereinbarung. Scheidung. Jessika.

Verglichen mit Entführung, Erpressung und Kristina Stare waren das objektiv betrachtet Bagatellen. Trotzdem verspürte er eine Leere in der Brust und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen. Stattdessen schluckte er krampfhaft und spülte das Croissant mit kaltem Kaffee herunter. Dann löschte er die Nachricht, holte sie jedoch gleich darauf wieder aus dem Papierkorb und speicherte Johanna Granwall als Kontakt in seinem Telefon, damit er ihre Nummer beim nächsten Anruf erkannte.

Resigniert legte er das Handy auf den Tisch und starrte das zweite Croissant an. Das erste quoll in seinem Magen weiter auf, unterstützt vom Kaffee, der ihn sauer aufstoßen ließ. Angewidert schob er den Teller beiseite und ging zurück auf sein Zimmer. Als sein Blick auf das ungemachte Bett fiel, hängte er das Bitte-nicht-stören-Schild vor die Tür, dann nahm er seinen Laptop aus der Reisetasche. Um ihn aufstellen zu können, räumte er den Wasserkocher und das Tablett mit Instantkaffee und zwei Tassen von der Fensterbank. Sie war eigentlich zu schmal, aber es ging.

Sein Handy klingelte erneut. Zufrieden lächelnd las er den Namen von Jessikas Anwältin auf dem Display und ließ es klingeln. Er öffnete sein E-Mail-Postfach und machte sich daran, unwichtige Nachrichten von wichtigen zu trennen, als eine neue E-Mail von Johanna Granwall eintraf. Eine geschlagene Minute schwebte sein Finger über der Löschtaste, während er nach einer Lösung suchte, damit er nicht mit ihr kommunizieren musste. Doch zu guter Letzt klickte er die E-Mail an. Ohne auch nur ein Wort zu lesen, schrieb er zurück, er sei zurzeit geschäftlich in Trollhättan und habe in den nächsten Tagen keine Möglichkeit, auf ihr Anliegen einzugehen.

Als er die Antwort abgeschickt hatte, atmete er auf. Jetzt würde sie wohl erst einmal Ruhe geben. Zufrieden, einen Ausweg gefunden zu haben, öffnete er das Voruntersuchungsprotokoll zu einem Fall von Körperverletzung, in dem kommende Woche die Hauptverhandlung stattfinden sollte. Das war die einzige berufliche Verpflichtung, die momentan seine Aufmerksamkeit erforderte.

Doch er konnte sich nicht konzentrieren, seine Gedanken schweiften unaufhörlich ab. Nicht dass es ihm jemals besonders gut gelang, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Seine Mandate glichen sich wie ein Ei dem anderen und vermischten sich zu einem Einheitsbrei aus banalen Kneipenschlägereien, widersprüchlichen Zeugenaussagen und Bildern von blauen Veilchen und anderen Misshandlungen. Robert hasste seinen Beruf. Aber er hatte keine Wahl. Rechnungen bezahlten sich nicht von allein.

Seine Beine begannen zu kribbeln. Unwillig schüttelte er den Kopf und versuchte, sich auf den Text zu fokussieren. Es war sinnlos. Erneut schweiften seine Gedanken ab. Als Anna abgestürzt war, hatte keiner von ihnen ein Handy gehabt. Das war damals noch keine Selbstverständlichkeit gewesen. Aber sie hätten Hilfe holen müssen. Das wäre das Richtige gewesen. Doch er hatte darauf beharrt, dass sie die Wahrheit verschwiegen, aus Angst, jemand könnte ihnen die Schuld an dem Unfall geben. Maria traf keine Schuld an dieser Entscheidung. Nicht einmal Erik. Die Schuld traf einzig und allein ihn, Robert Silver.

Die Polizei konnte jeden Moment an seine Tür klopfen. Doch bisher deutete nichts darauf hin, dass Erik seine Drohung wahr gemacht und ihr Geheimnis verraten hatte.

Vor dem Fenster fuhren Autos über die Klappbrücke, am gegenüberliegenden Flussufer leuchtete Kristinas weiße Prachtvilla. Roberts Magen verkrampfte sich. Nicht zum ersten Mal bereute er, dass sie nicht von Anfang an die Wahrheit gesagt hatten, aber nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dass die Wahrheit sie eines Tages einholen und auf diese Art hinterrücks überfallen würde. Und Kristina? Roberts Angst vermengte sich mit abgrundtiefer Scham. Ob sie dasselbe fühlte? Dort drüben, in dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann lebte. Und mit ihrer Tochter.

Mira.

Eine neue E-Mail von Johanna Granwall katapultierte ihn zurück in die Gegenwart. Sie erwartete, dass er sich – seinen beruflichen Verpflichtungen zum Trotz – noch heute bei ihr meldete.

Verfluchte Jessika.

Er war kurz davor, den Laptop aus dem Fenster zu werfen, riss sich aber zusammen. Eins nach dem anderen, Robert. Die akute Situation zuerst, dann die verflixte Scheidung. Nur wie sollte er vorgehen? Er hatte nicht den geringsten Hinweis. Er konnte nichts weiter tun als warten. Früher oder später begingen Entführer Fehler. Er musste Geduld haben und hoffen, dass Mira noch am Leben war.

Robert atmete tief durch und wandte seine Aufmerksamkeit der Arbeit zu. Das Voruntersuchungsprotokoll leuchtete ihm vom Bildschirm entgegen.

Während er wartete, konnte er zumindest die eine oder andere Stunde zusammenkratzen, die er dem Staat in Rechnung stellte.