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Maria saß neben Anders auf dem Beifahrersitz. Ihr Kollege lenkte den Streifenwagen aus der Tiefgarage des Präsidiums. Künstliches Licht und graue Betonwände wichen einem ebenso grauen Himmel und trübem Tageslicht. Maria seufzte und versuchte, sich auf den vor ihr liegenden Arbeitstag zu fokussieren. Sie musste die Fassade aufrechterhalten. Bis sie und die anderen eine Lösung gefunden hatten, durfte sie sich nichts anmerken lassen. Seit Kristina und sie die Kiste mit Miras Handy ausgegraben hatten, hüllte der Entführer sich in Schweigen. Und dieses Schweigen war fast noch schlimmer als das Gegenteil.

»Heute machen wir das Zwanzig-Minuten-Prinzip«, sagte Anders und bog in den Klintvägen ein. »Wir sollen uns zuerst am Kreisverkehr positionieren, oder?«

»Ja.«

Maria mochte das Zwanzig-Minuten-Prinzip. Es war abwechslungsreicher als die groß angelegten Verkehrskontrollen. Kurze Stopps an variierenden Stellen. Die Leute sollten das Gefühl haben, die Polizei sei überall präsent, und von vornherein vorschriftsmäßig fahren. Auf der Straße zwischen Sportplatz und Polizeipräsidium holte Anders tief Luft.

»Du, was deine Beförderung angeht«, sagte er. »Ich verstehe das nicht. Warum hast du abgelehnt?«

Maria schloss die Augen. Sie wollte sich nicht rechtfertigen oder irgendetwas erklären. Sie wollte nur ihre Arbeit machen und anschließend nach Hause zu ihren Katzen gehen. Sie wollte für sich bleiben, bis sie in Rente ging und sich ein für alle Mal vom Leben fernhalten konnte.

»Nicht dass es mich was angeht«, fuhr Anders fort, hielt an der Kreuzung und blinkte nach rechts. »Aber als dein Freund möchte ich dir sagen, dass du deine Entscheidung noch mal überdenken solltest. Du bist viel zu jung, um dich mit deiner Position zufriedenzugeben.«

Maria sah ihn an. Sie wollte gerade erwidern, dass sie nicht darüber sprechen wolle, jedenfalls nicht jetzt, als sie eine bekannte Gestalt entdeckte. Ein schlaksiger Mann überquerte mit ruckhaften Schritten den Parkplatz des Polizeireviers. Ihr Körper spannte sich wie eine Stahlfeder. Es war eindeutig Erik, es konnte niemand anderes sein. Sie schnallte sich ab und riss die Tür auf.

»Was zum Henker tust du da?!«, rief Anders und warf ihr einen entsetzten Seitenblick zu.

»Ich bin gleich wieder da«, stammelte sie. »Warte auf mich.« Ehe Anders etwas erwidern konnte, schlug sie die Tür zu, hastete Erik nach und packte ihn mit festem Griff an der Schulter. Mit schmerzverzerrtem Gesicht drehte er sich zu ihr um.

»Au, pass doch auf«, murrte er und rieb seine Schulter, als Maria ihn losließ.

»Was willst du hier?«, fragte sie. War Erik verletzt? War etwas passiert?

»Scheiße, Maria«, erwiderte er und starrte sie wütend an. »Das ist dir doch wohl klar, oder?«

Maria atmete flach. Ihr Blick bohrte sich in Eriks. Anders bog auf den Parkplatz ein und fuhr im Schritttempo neben ihnen her. Er ließ das Seitenfenster herunter. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er.

»Alles bestens.« Maria warf ihm einen hastigen Blick zu. »Halt kurz an. Ich komme gleich.« Sobald sie im toten Winkel von Anders’ Rückspiegel standen, stieß sie Erik in die Brust. »Du sagst kein Wort, zu niemandem, hast du verstanden?«, sagte sie ernst.

Als sie ihren Finger sinken ließ, folgte Erik ihm mit den Augen. »Du hast mir nichts zu sagen. Ich erzähle, was ich will und wem ich will.«

»Wir haben geschworen zu schweigen. Ein Schwur ist ein Schwur.«

»Ich will nur das Richtige tun. Gerade du solltest das verstehen. Immerhin bist du Polizistin.«

Eriks Worte entfachten in Maria einen Wirbelsturm an Schuldgefühlen.

Sie blickte sich um. Um Zeit zu gewinnen und sich zu vergewissern, dass Anders nicht zu ihnen herüberkam. Doch der hatte nur die Fahrertür geöffnet und nonchalant ein Bein aus der Tür gestreckt. Allerdings stand er in Hörweite.

»Und warum denkst du, dass du das Richtige tust, wenn du alles erzählst?«, flüsterte sie. »Du hast fünfundzwanzig Jahre lang den Mund gehalten, warum willst du jetzt auf einmal die Wahrheit sagen?«

Erik schnitt eine Grimasse und starrte auf den Asphalt. »Du verstehst nicht«, erwiderte er leise. »Ich sehe sie die ganze Zeit vor mir. Ihre Augen, ihre ausgestreckte Hand.«

Maria schluckte schwer. Sie wusste nur zu gut, was Erik meinte. Sie wurde von denselben Erinnerungen gequält. Annas flehender Blick. Der letzte Atemzug ihrer Mutter. Dieselbe unheimliche Endgültigkeit. Augen, die von einer Sekunde auf die andere ihren Glanz verloren, ein Brustkorb, der sich ein letztes Mal senkte, um sich niemals wieder zu heben.

»Wir hätten von Anfang an die Wahrheit sagen sollen«, fuhr Erik fort. »Dieser verfluchte Schwur hat mein Leben zerstört. Ich will nicht mehr, verstehst du?«

Maria nickte. »Ja, das verstehe ich. Aber hör zu, du darfst nichts sagen, nicht jetzt. Du glaubst vielleicht, Mira damit zu helfen. Aber dadurch ist keinem geholfen. Verstehst du? Keinem. Der Entführer wird erfahren, dass du zur Polizei gegangen bist, und damit setzt du nicht nur uns vier einer Gefahr aus. Du riskierst Miras Leben. Kapierst du das?«

»Die Wahrheit kann Mira nicht schaden. Im Entzug habe ich mir geschworen, nie mehr zu lügen. Ich kann so nicht mehr weitermachen.«

Maria schloss für einen Moment die Augen. »Ich weiß genau, was du meinst. Du bist ein neuer Mensch, ein besserer Mensch, als du vorher warst. Aber das bedeutet nicht, dass du unser Geheimnis verraten musst. Damit machst du die Sache nur schlimmer.«

Erik seufzte. »Ich habe Schulden«, sagte er. »Bei Leuten, denen man besser aus dem Weg geht, glaub mir.«

Maria wurde eiskalt. Voller Abscheu wich sie vor Erik zurück. Jetzt kommen wir der Wahrheit näher, dachte sie. Das ist der wahre Grund.

»Es ist schwer, einem Leben, wie ich es gelebt habe, den Rücken zu kehren, Maria. Es gibt immer irgendwas, das einen einholt. In meinem Fall sind es Schulden. Wenn ich nicht zahle …« Erik verstummte.

»Wovon zum Teufel faselst du?«, zischte Maria. Sie sah Erik an, der den Kopf zur Seite neigte und versuchte, das Unschuldslamm zu spielen. Auffordernd hielt er die Hand auf. »Hunderttausend«, sagte er. »Das ist nicht viel, nicht für euch drei. Ich will hunderttausend, dann verspreche ich, kein Sterbenswort zu sagen.«

Maria fühlte sich wie von einem Bus überrollt. Die Luft wich aus ihren Lungen, und sie starrte Erik sekundenlang mit offenem Mund an, bis sie die Fassung wiedergewann. Sie beugte sich dichter zu ihm. »Soll das ein Erpressungsversuch sein?«

»Nenn es, wie du willst.« Erik ließ die Hand sinken. »Aber entweder wir finden eine einvernehmliche Lösung, oder ich gehe durch diese Tür da drüben.«