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Eine Suchkette hat etwas Ästhetisches.

Blaues Licht greller LED-, Stirn- und Taschenlampen das durch Nebel dringt. Waldesstille, die von Aktivität erfüllt wird. Silhouetten von Menschen, die sich zwischen Bäumen bewegen. Ein Name, der durch die Luft hallt.

Mira!

Gebell von Spürhunden. Knackende Zweige, schwere Stiefel, die über moosbewachsene Steine und glitschige Wurzeln steigen. Geruch von feuchter Erde, nassem Moos und feuchten Wollmützen. Hunderte Freiwillige in signalgelben Westen, vereint im selben Ziel. Im Dunkeln gewechselte Blicke. Geraunte Kommunikation zwischen Menschen, die die gleichen Gefühle hegen. Die Hoffnung, ein Mädchen lebend zu finden. Die Furcht, es nicht zu finden. Oder, noch schlimmer, seine Leiche.

Nebelschwaden wabern umher, zerren wie eine namenlose Angst an den erschöpften Nerven der Teilnehmer und rauben ihren Gliedern die Wärme, während sie unermüdlich weitersuchen.

Mira!

Am Waldrand flackert Blaulicht auf. Die freiwilligen Helfer legen eine kurze Pause ein. Rentnerinnen und Rentner, die sich nicht in den dunklen Wald hineinwagen, schenken Kaffee aus. Über dampfenden Plastikbechern, Thermoskannenschraubdeckeln und mitgebrachten Tassen werden leise Gespräche geführt. Der eine oder andere verzehrt ein Butterbrot. Als der Abend in Nacht übergeht und der Nebel von anhaltendem Eisregen abgelöst wird, rechnen immer mehr Teilnehmer mit dem Schlimmsten. Trotzdem gibt niemand auf.

Ein Stück abseits steht eine Reporterin im gleißenden Schein einer Fernsehkamera. Ihre gelbe Regenjacke wirft das Licht zurück, während sie mit besorgter Miene berichtet, dass die Suche nach der zwölfjährigen Mira Stare bisher ergebnislos verlaufen ist. Sollte das Mädchen so nah am Wasserfall in den Fluss gestürzt sein, könnte die starke Strömung es kilometerweit fortgezogen haben. Nach dem regnerischen Herbst ist der Pegelstand des Vänern ungewöhnlich hoch, und der Wasserfall, Trollhättans größte Touristenattraktion, tost mit der Wucht früherer Zeiten. Um die Wassermassen am Kraftwerk Olidan zu entlasten, wird ein großer Teil des Wassers derzeit in das alte Flussbett des Göta älv geleitet, wo gefährliche Unterströmungen herrschen.

In diesem Moment, im Wald unterhalb des Wasserkraftwerks, macht jemand die entscheidende Entdeckung. Zwischen den Bäumen, am Fuß eines steilen Felshangs, leuchtet eine rote Mädchenjacke, wie Mira sie getragen hat.

Mira! Mira!

Aufgeregte Stimmen erklingen. Immer mehr Leute eilen herbei. Eine Frau presst ihr Handy ans Ohr und keucht: »Sie haben sie gefunden«, während sie durch tropfnasses Unterholz zur Fundstelle hastet.

Da sitzt jemand, zwischen knorrigen Baumwurzeln, den Rücken an einen Stamm gelehnt, umhüllt von rotem, erdverkrustetem Stoff. Aber es ist nicht Mira. Sie kann es nicht sein. Denn das, was Miras rote Jacke trägt, ist ein Skelett.