Erik starrte aus dem Fenster. Er hatte den anderen seine Forderung mitgeteilt. Zunächst würden sie sich weigern, doch am Ende würden sie zahlen. Eigentlich sollte er stolz sein, dass er seinen Plan durchgezogen hatte, doch er verspürte keine Euphorie. Nicht einmal eine kribbelnde Nervosität.
Er empfand nichts als Leere. Seine Lungen dehnten sich aus und zogen sich zusammen, mehr nicht. Ob sein Herz schlug? Er konnte es nicht sagen.
Als der durchdringende Ton der Türklingel durch das Appartement hallte, fuhr er zusammen. Es klang aggressiv. Er erwartete keinen Besuch. Reglos blieb er stehen und tat so, als sei er nicht zu Hause. Es klingelte wieder, dann wurde gegen die Tür geklopft. Eriks Puls schnellte in die Höhe. Wer auch immer dort draußen stand, wollte definitiv zu ihm. Hatte Jörgen wieder einen seiner Gorillas geschickt?
Wohl kaum. Der würde das Schloss knacken oder die Tür eintreten. Widerstrebend ging er in den kleinen Flur und spähte durch den Spion. Im Treppenhaus stand die verzerrte Gestalt seines Betreuers. Jonas’ Gesicht schien einzig und allein aus seiner Nase zu bestehen, aber er war es. Panisch begriff Erik, dass Jonas einen Kontrollbesuch absolvierte.
Er war heute Morgen nicht zur Arbeit gegangen. Mit einem leisen Fluch auf den Lippen wollte er schon die Tür öffnen, als ihm die beiden Flaschen in der Küche einfielen. Verzweifelt sah er sich um. Sollte er sie aus dem Fenster werfen? Sie bis auf den letzten Tropfen auskippen? Nein, das Risiko, dass Jonas den Alkohol roch, war zu groß.
Er sprintete zur Küchenzeile. »Moment!«, rief er laut, packte die beiden Flaschen und versteckte sie im Schrank unter der Spüle. Hier würden sie Jonas jedenfalls nicht gleich ins Auge fallen. Dann ging er ins Bad und betätigte die Toilettenspülung, ehe er in den Flur zurückkehrte und Jonas hereinließ. Hoffentlich glaubte sein Betreuer, er hätte so lange gebraucht, weil er auf dem Klo gehockt hatte.
»Hey, Kumpel«, sagte Jonas grinsend. »Darf ich reinkommen?«
»Klar«, erwiderte Erik. »Wie geht’s dir?«
Jonas zog seine Schuhe im Flur aus. Beschämt stellte Erik fest, dass er selbst in dreckigen Tretern herumlief. Jonas ging an ihm vorbei in den Wohnraum, zog einen Zettel aus der Innentasche seiner Jacke und drückte ihn Erik in die Hand. »Die Bewilligung für ein neues Bett«, sagte er lächelnd. »Damit dieses morsche Lattengerüst nicht irgendwann unter dir zusammenkracht. Ich habe gleich neue Laken mit draufsetzen lassen. Geh damit einfach zu IKEA.«
»Danke.« Erik blieb mit dem Bewilligungsschein in der Hand stehen und ließ Jonas, der sich in dem kleinen Raum umsah, keine Sekunde aus den Augen. Er wusste genau, was Jonas tat. Er inspizierte, beurteilte, suchte nach Anzeichen, dass irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Aber er verbarg es gut.
»Du, übrigens«, sagte Jonas beiläufig, während er einen Hängeschrank der Küchenzeile öffnete. »Deine Chefin hat mich heute Morgen angerufen.« Jonas schloss den Schrank und sah Erik fragend an.
Erik räusperte sich. »Hat sie gesagt, dass ich nicht bei der Arbeit war?«, fragte er.
»Ganz genau. Hast du mir was zu sagen, Kumpel? Du weißt, dass du nicht unentschuldigt bei der Arbeit fehlen darfst. Das ist Teil deines Therapieplans.«
Erik nickte und wich Jonas’ Blick aus. Er schämte sich.
»Ich weiß. Aber mir ging’s heute Morgen nicht gut. Ich bin kaum aus dem Bett gekommen und dachte, ich hätte Fieber oder so.«
»Jetzt, wo du es sagst, du siehst tatsächlich ein bisschen blass aus«, erwiderte Jonas. »Aber du hättest anrufen und dich krankmelden müssen. Warum hast du das nicht gemacht?«
»Ich … ich hab’s vergessen.«
»Erik.« Jonas schüttelte betrübt den Kopf. »Das ist kein Argument, das ist dir doch wohl klar?«
»Ich weiß. Tut mir leid.« Erik fühlte sich wie ein Schuljunge, der seinem enttäuschten Lehrer beichtete, dass er die Hausaufgaben vergessen hatte.
»Bei mir musst du dich nicht entschuldigen.« Jonas zog eine Besteckschublade auf. Es schepperte metallisch. Erik gab sich Mühe, nicht auf den Schrank unter der Spüle zu starren. Sein Herz hämmerte immer heftiger. Jonas durfte die Flaschen nicht finden, das wäre eine Katastrophe. »Ruf deine Chefin an und entschuldige dich bei ihr. Erklär ihr, warum du nicht zur Arbeit gekommen bist. Das ist wirklich wichtig.« Jonas schloss die Schublade und sah ihn mit schräg gelegtem Kopf an. »Aber wie heißt es so schön? Einmal ist keinmal. Sie schien nicht sauer zu sein, eher besorgt.«
»Das beruhigt mich«, sagte Erik. »Ich rufe sie an, versprochen. Ich hoffe, dass ich morgen wieder auf dem Damm bin. Wenn nicht, rufe ich an und melde mich krank. Das schwöre ich hoch und heilig.« Marias Worte hallten in seinem Kopf wider. Ein Schwur ist ein Schwur.
»Klingt gut. Aber es gibt noch was.« Jonas verließ die Kochnische und musterte Erik forschend.
»Was?«
»Ein paar Nachbarn haben heute Nacht Lärm im Haus gehört. Die Geräusche sollen aus deiner Wohnung gekommen sein.«
Erik bekam einen Kloß im Hals. »Davon weiß ich nichts«, sagte er. »Ich habe nichts gehört.«
Jonas betrachtete ihn noch einige Sekunden, dann nickte er.
»Das freut mich zu hören. Ruhestörungen sind ein No-Go. Ich möchte nicht, dass irgendjemand sagen kann, wir hätten dir dieses Vertrauen zu früh geschenkt.« Jonas fasste ihn freundschaftlich bei den Oberarmen und lächelte ihn aufrichtig an. »Ich mag dich, Kumpel, das weißt du. Ich will, dass du das hier packst und deinen Weg machst.«
»Ich weiß.« Erik wollte Jonas nicht zeigen, wie sehr er sich schämte. Er wusste, dass Jonas’ Worte ehrlich gemeint waren. Aber wie sollte Jonas verstehen, was er gerade durchmachte? Jonas besaß wohl kaum ein ebenso dunkles Geheimnis wie er und die drei anderen.
»Also gut, Kumpel.« Jonas ließ seine Arme los und deutete wieder auf das altersschwache Bett. »Sag Bescheid, wenn du Hilfe beim Transport deiner neuen Koje brauchst. Ich kann vielleicht einen Anhänger organisieren. Du brauchst deinen Schlaf, vor allem wenn du dich krank fühlst. Du musst ausgeschlafen sein, damit du einen geregelten Tagesablauf einhalten kannst.«
»Danke«, sagte Erik.