Robert starrte aus seinem Hotelfenster auf die Autos, die in Ampelintervallen über die Klappbrücke fuhren. Die Aussicht war den ganzen Tag lang ein und dieselbe geblieben, bloß das Licht hatte sich verändert. Von Silbergrau am Morgen über Einheitsgrau am Nachmittag, bis es endgültig erloschen und dunkelgrauer Abenddunkelheit gewichen war.
Der Tag war zur Neige gegangen, während er versucht hatte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Der Stuhl vor seinem improvisierten Schreibtisch war unbequem wie ein Hocker, die Rückenlehne schien reine Dekoration zu sein. Mit krummem Rücken hatte er vor dem Bildschirm gehockt und versucht, sich dem Voruntersuchungsprotokoll und den wenigen E-Mails zu widmen, die im Lauf des Tages eingetrudelt waren. Er hatte sogar die Werbung für Seminare und Fortbildungen gelesen, die er sich weder leisten konnte, geschweige denn besuchen wollte. Trotzdem hatte er kaum etwas zuwege gebracht und überwiegend mit leerem Blick vor sich hingestarrt. Die einzige Unterbrechung vom Frust war das Mittagessen im Hotelrestaurant gewesen, danach hatte er wieder auf seinem Zimmer gesessen und gespürt, wie die Angst immer tiefer in ihn hineinkroch.
Der gestrige Tag hatte mehr Erinnerungen wachgerufen, als ihm lieb war. Und so ungern er es sich auch eingestand, der Großteil drehte sich weder um Miras Entführung, die Erpressung noch um Anna Fridhemsson, sondern um Kristina. Kristina und er waren nie offiziell ein Paar gewesen, obwohl sie früher einige Male miteinander im Bett gelandet waren, auch dann noch, als er nach Göteborg gezogen war und Kristina Johan kennengelernt hatte. Er war nicht stolz darauf, aber es war vor Jessika gewesen, so viel konnte er immerhin zu seiner Ehrenrettung anbringen.
Sein Telefon klingelte. Ohne nachzudenken oder aufs Display zu sehen, nahm er ab.
»Johanna Granwall«, sagte eine ernste Stimme.
Mist. Jessikas Anwältin war die Letzte, mit der er reden wollte, aber er konnte schlecht wieder auflegen. »Hallo«, sagte er möglichst gelassen.
»Ich versuche seit Tagen, Sie zu erreichen«, erwiderte Johanna Granwall. Ihre Stimme klang kratzig. Entweder qualmte sie eine Schachtel Zigaretten pro Tag, oder sie war erkältet. Robert entschied, sie sich als Kettenraucherin vorzustellen, das machte sie in seinen Augen boshafter.
»Ich hatte Termine«, sagte er. »Was kann ich für Sie tun?«
»Stellen Sie sich nicht dümmer, als Sie sind«, erwiderte Johanna Granwall. »Sie wissen ganz genau, weshalb ich anrufe. Ich möchte die Gütertrennungsvereinbarung zwischen Ihnen und meiner Mandantin Jessika Lööf besprechen.«
»Und was genau möchten Sie da besprechen?«, fragte Robert.
»Haben Sie den Entwurf gelesen, den ich Ihnen gemailt habe?«
Robert scrollte durch seine E-Mails, bis er die Nachricht von Johanna Granwall fand, und öffnete sie, allerdings ohne einen Blick in das angehängte PDF zu werfen. »Nein«, sagte er. »Aber was sollte ich auch dazu sagen? Das meiste ist sowieso Jessikas Alleineigentum. Ich verstehe nicht, warum wir uns nicht einfach an den Vertrag halten, den ich aufgesetzt habe.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich das so unverblümt sage, aber Ihr Entwurf war unter aller Kritik. Sie haben sich Vermögenswerte zugesprochen, die Ihnen meiner Mandantin zufolge nicht zustehen.«
»Aha. Und welche Vermögenswerte sollen das sein?«
»Solange Sie unseren neuen Entwurf nicht gelesen haben, werde ich mich nicht zu Detailfragen äußern.«
»Und warum rufen Sie mich dann an?«
»Weil meine Mandantin die Angelegenheit zum Abschluss bringen möchte, damit sie einen Schlussstrich ziehen und nach vorne blicken kann.«
Robert lachte. »Was Sie nicht sagen. Als hätte sie das nicht längst getan. Und wenn ich die Zeilen nicht missverstehe, die ich in diesem Moment lese, sind die Kleider, die ich am Leib trage, so ziemlich das Einzige, was ich behalten darf.«
»Sie übertreiben. Aber ich möchte, dass Sie mir die Gütertrennungsvereinbarung morgen unterschrieben zurückschicken, damit wir die Angelegenheit abschließen können. An Ihrer Stelle würde ich nicht versuchen, die Sache weiter hinauszuzögern, dadurch gewinnen Sie nichts.«
»Ich soll also einfach Ja und Amen sagen und die Bedingungen, die Sie und meine Nochehefrau aufgestellt haben, kommentarlos akzeptieren?«
»Ganz genau. Meine Adresse steht in der E-Mail. Ich werde Ihnen Ihr Exemplar postalisch zukommen lassen, sobald meine Mandantin gegengezeichnet hat.«
Robert wäre am liebsten explodiert. Er hatte nicht übel Lust, Johanna Granwall anzubrüllen, sie solle sich zum Teufel scheren, aber er beherrschte sich. »Ich werde die Vereinbarung in aller Ruhe durchlesen. Ich habe mich um eine einvernehmliche Lösung bemüht, aber meine Nochehefrau hat Sie mit hineingezogen, und ich kann Jessikas Auslegung des Ehevertrags nicht in allen Punkten zustimmen.«
»Das können Sie sich sparen. Die Auslegung des Ehevertrags stammt von mir, und ich irre mich niemals. Tun Sie einfach, was ich sage.«
»Dann haben Sie doch sicher nichts dagegen, wenn ich Ihre Auslegung prüfe?«
»Tun Sie, was Sie wollen«, erwiderte Johanna Granwall. »Aber ich erwarte Ihre Unterschrift bis morgen.«
Sie legte auf. Robert schlug den Laptop mit einem Knall zu, stand auf und trat ans Fenster. Aus den Fenstern von Kristinas Haus schimmerte eigenartig gedämpftes Licht, als hätte sie sämtliche Gardinen vorgezogen. Stirnrunzelnd überlegte er, was der Grund sein könnte, gab den Versuch jedoch rasch auf, schickte Kristina stattdessen eine SMS und erkundigte sich, ob im Lauf des Tages irgendetwas Neues vorgefallen sei.
Hat sich der Entführer wieder gemeldet?, fragte er.
Er wartete auf die drei blinkenden Punkte, die anzeigten, dass Kristina antwortete. Sie erschienen nicht. Seufzend schlüpfte er in sein Jackett, verließ das Zimmer und fuhr mit dem Aufzug nach unten in die Bar. Er ließ sich ein Bier geben und kippte die Hälfte in einem Zug hinunter. Als er vor dem dritten Bier saß und die bittere Realität ringsum in Samt gehüllt zu sein schien, vibrierte sein Handy. Kristinas Antwort.
Nein. Hast du das von Erik gehört?
Nein, was ist mit ihm?
Maria hat ihn in letzter Sekunde davon abgehalten, zur Polizei zu gehen und die Wahrheit über Anna zu erzählen. Aber er will 100 000 für sein Schweigen.
Das kann er vergessen.
Das dritte Bier floss Roberts Kehle hinunter. Er sah auf die Uhr. Kurz vor neun. Er sollte etwas essen und danach ins Bett gehen. Alles war vernünftiger, als untätig herumzusitzen und zu saufen, während Erik die Situation jeden Moment zum Eskalieren bringen konnte. Er schickte Kristina eine weitere Nachricht.
Wir müssen etwas unternehmen. Kannst du reden?
Kristinas Antwort kam eine Minute später.
Ich komme zu dir. Wo bist du?
In der Hotelbar. Es sind kaum Gäste hier.
Ich kann nicht riskieren, dass mich jemand sieht. Ich komme auf dein Zimmer.