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Maria hatte das Gefühl, von dichtem Nebel umgeben zu sein. Sie saß auf dem Sofa und betrachtete ihre Dienstkleidung, die sie achtlos auf den Fußboden geworfen hatte, als sie nach Hause gekommen war. Diese Unordnung war vollkommen untypisch für sie. Ihr Blick fiel auf das Funkgerät, das unter dem Schiffchen hervorlugte. Das Kabel hatte sich unter einer Schulterklappe verheddert und verschwand in dem Wust, der ihre Jacke darstellte.

Sobald sie nicht mehr in ihrer Uniform gesteckt hatte, war sie aufs Sofa gesackt, hatte den Hemdkragen gelöst und war, reglos vor sich hinstarrend, sitzen geblieben. Aber jetzt knurrte ihr Magen, und sie zwang sich, in die Küche zu gehen und den Schrank mit ihrem umfangreichen Teesortiment zu öffnen. Sie seufzte. Ausnahmsweise wünschte sie, sie hätte etwas Stärkeres im Haus. Sie wollte in Bewusstlosigkeit versinken, in sich selbst verschwinden. Tee würde ihr diesen Wunsch kaum erfüllen. Sie nahm eine Packung Vollkornkekse heraus, schob sich einen Keks in den Mund und kaute, während sie Tarzans und Mistels Futternäpfe füllte. Das Rappeln des Kartons lockte ihre geliebten Vierbeiner auf der Stelle an, doch Maria ignorierte sie. Nicht einmal Tarzan, der auffordernd um ihre Beine strich, erhielt eine Streicheleinheit. Er würdigte seine Portion keines Blickes und ließ sie nicht aus seinen großen grünen Augen, als sie mit der Kekspackung als Abendbrot aufs Sofa zurückkehrte und nach ihrem Telefon griff.

Keine neue Nachricht vom Entführer. Aber das war das einzig Positive. Weder Facebook-, Twitter- noch TikTok-Posts konnten die bangen Gedanken vertreiben, die sie seit dem Aufeinandertreffen mit Erik vor dem Polizeirevier quälten. Es war fast acht Uhr abends. Maria würgte einen trockenen Keksbissen herunter, nahm all ihren Mut zusammen und rief Kristina an.

»Hallo.« Kristinas schleppende Stimme ließ Maria ahnen, dass irgendetwas nicht stimmte.

»Ich bin’s«, sagte Maria. »Wir müssen reden.«

»Ich kann nicht. Nicht heute Abend«, erwiderte Kristina. Maria hörte, dass sie etwas trank. »Ich muss etwas erledigen.«

Maria ignorierte Kristinas abweisendes Verhalten. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie. »Über Erik und seine Forderung.«

»Was soll damit sein?«

Maria blickte seufzend an die alte Holzdecke. Die Astlöcher in der Maserung schienen wie Augen auf sie herabzuschauen. »Erik hat recht.«

Kristina nahm wieder einen Schluck. »Was meinst du?«

»Trinkst du?«, fragte Maria.

»Nur Kaffee«, antwortete Kristina. Aber Maria hörte, dass sie log. Von Kaffee lallte man nicht. Sie schüttelte den Kopf.

»Hältst du es für klug, jetzt zu trinken?«, sagte sie.

»Seit Mira verschwunden ist, habe ich keine Nacht durchgeschlafen. Wenn mich ein bisschen Alkohol in den Schlaf lullt, ist es das wert.«

»Okay. Ich habe keine Lust, deswegen mit dir zu streiten.«

»Weshalb, sagtest du, rufst du an? Wegen Erik?«

Maria nahm das Telefon in die andere Hand. »Ja, er hat recht. Wir sollten wirklich zur Polizei gehen und alles erzählen. Dann kann er uns nicht mehr erpressen.«

»Nein, Maria.« Urplötzlich war das Lallen aus Kristinas Stimme verschwunden. Sie klang so stabil und klar, als hätte sie unversehens die Lösung für ihre Probleme gefunden. »Warte.« Am anderen Ende der Leitung raschelte es. Als Kristinas Stimme zurückkehrte, klang sie verändert, weiter vom Hörer entfernt.

»Was machst du?«, fragte Maria.

»Ich habe mein Headset aufgesetzt«, antwortete Kristina. Ein Schlüsselbund klirrte. »Ich muss an die frische Luft, sonst ersticke ich noch.«

»Ich versuche, ein Gespräch mit dir zu führen«, erwiderte Maria irritiert. »Warum musst du ausgerechnet jetzt durch die Gegend laufen?«

»Wie ich bereits sagte, ich brauche frische Luft.«

Maria spürte, wie Wut in ihr hochstieg. Kristina nimmt mich nicht ernst, dachte sie. »Und was ist mit mir?«, stieß sie hervor.

»Was soll mit dir sein?«, fragte Kristina. »Ich verstehe, dass der Tag heute nicht leicht für dich war, mit Erik und den anderen Dingen, die du um die Ohren hast. Aber wir können gerade nichts tun.«

»Genau darum geht es doch.« Maria rutschte auf die vordere Sofakante. »Wir können etwas tun, Kristina. Wir können das tun, was wir von Anfang an hätten tun sollen. Zur Polizei gehen, die Wahrheit sagen und meine Kollegen ihre Arbeit tun lassen.«

Im Hintergrund klappte eine Tür, und als Kristina antwortete, war der Widerhall aus der Leitung verschwunden. Sie hatte das Haus verlassen und ging irgendwohin. »Du vergisst einen ausschlaggebenden Grund, warum wir das nicht tun können. Und ich rede nicht davon, dass wir so gut wie alles verlieren würden, was wir im Leben erreicht haben.«

»Was meinst du?« Maria stützte die Stirn in die freie Hand.

»Erinnerst du dich, was in der SMS stand, die der Entführer auf Miras Handy geschickt hat?«

»Nicht wortwörtlich.«

»Dass Mira stirbt, wenn wir nicht bezahlen.«

Maria nahm die Worte langsam in sich auf. Kristina hatte recht. Es ging nicht nur um eine Erpressung, es ging um eine Morddrohung.

Kristina fuhr fort. »Aber wir haben noch keine Lösegeldforderung erhalten. Der Entführer hüllt sich seitdem in Schweigen, oder etwa nicht?«

»Ja«, sagte Maria. »Oder, ich weiß nicht. Was meinst du?«

»Ich glaube nicht, dass sich der Entführer in Schweigen hüllt. Ich glaube, dass Erik hinter Miras Entführung steckt und uns seine Forderung mitgeteilt hat.«

Maria schüttelte den Kopf und stand vom Sofa auf. »Nein, das kann nicht sein. Erik kommt gerade erst wieder auf die Beine. Er will ein geregeltes Leben führen. So etwas würde er nie tun.«

»Denk nach«, beharrte Kristina. »Er schuldet allen möglichen Gangstern Geld. Und er weiß, dass wir drei ein so dunkles Geheimnis teilen, dass wir alles dafür tun würden, es zu bewahren.«

»Aber das ist doch vollkommen unnötig. Er könnte uns doch einfach drohen, die Wahrheit zu erzählen. Dafür muss er Mira nicht entführen.«

»Nein«, entgegnete Kristina entschieden. »Er weiß nicht, wie weit wir gehen würden, damit niemand erfährt, was mit Anna geschehen ist. Vielleicht fürchtet er, wir könnten ihn umbringen. Solange er Mira in seiner Gewalt hat, weiß er, dass wir das Risiko nicht eingehen.«