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Erik stand in seiner dunklen Einzimmerwohnung. Er hatte Hunger, und es kribbelte ihn am ganzen Körper. Sein Blick haftete auf dem Schrank unter der Spüle.

Ob es Kristinas Tochter genauso ging wie ihm, wo immer sie auch war, gefangen in der Dunkelheit? Schmiedete sie wie er einen Fluchtplan, oder hatte sie die Hoffnung aufgegeben? Hatte sie kapituliert und versuchte, nur am Leben zu bleiben, ohne zu wissen, weshalb? Sammelte sie Kraft, um einen Fluchtversuch zu unternehmen, sobald sich die Tür ihres Gefängnisses das nächste Mal öffnete?

Aber zwischen Miras und seiner Situation existierte ein wesentlicher Unterschied. Glückte Mira die Flucht, lag hinter ihrer Tür die Freiheit. Anders als hinter seiner Tür – obwohl er sie jederzeit öffnen und gehen konnte, wohin er wollte. Seine Freiheit lauerte hinter einer anderen Tür. Hinter der Tür des Schranks unter der Spüle. Die befristete Freiheit von seinen Erinnerungen. Eine gefährliche Freiheit.

Seine Hände zitterten. Er hatte am Boden der Gesellschaft gelebt, hatte Dreck gefressen. Von ganz unten hatte er sich wieder nach oben gekämpft, doch seine Vergangenheit haftete wie Ketten an seinen Füßen, die ihn abermals in den Abgrund zogen. Wenn die Neue in ihrer Klasse nicht so verflucht verzweifelt gewesen wäre, Anschluss zu finden, wäre nichts passiert. Warum hatte Maria sie mitschleppen müssen, obwohl sie ausgemacht hatten, dass sie sich zu viert trafen? Er hatte Anna mit den anderen unter dem Moos begraben, hatte wie die anderen den Mund gehalten und dem Rettungsdienst weisgemacht, Anna sei in den Fluss gestürzt. Die Lüge hatte ihn so abgrundtief vergiftet, dass die giftigen Substanzen, mit denen er seinen Körper danach jahrelang betäubt hatte, ihm wie heilsame Medizin erschienen waren.

Die anderen konnten ruhig für sein Schweigen bezahlen. Das waren sie ihm schuldig. Kristina Stare hatte sicher Geld wie Heu, so viele Bücher, wie sie weltweit verkaufte. Und dieser arrogante Anwaltspinkel musste in Schotter förmlich baden, das wusste doch jeder, dass Anwälte ohne Ende Kohle scheffelten. Dass er Maria ebenfalls erpresste, verursachte ihm hingegen Gewissensbisse. Sie war immer nett zu ihm gewesen, selbst dann, als er am Tiefpunkt gewesen war. Sie hatte sogar versucht, ihm zu helfen. Und wie dankte er es ihr? Aber er konnte es nicht ändern. Wenn er die Sache durchziehen wollte, musste er alle drei gleich behandeln. Sobald er das Geld hatte, wäre der Albtraum vorbei.

Er schlug sich mit den Handballen gegen die Schläfen, als könnte er sein schlechtes Gewissen so zum Schweigen bringen. Es half nicht. Doch es gab einen Weg. Die Lösung stand schon parat. Er konnte die Flasche durch die Schranktür förmlich sehen. Erik wusste kaum, wie es zuging, als seine Hand danach griff und seine Finger das glatte Glas umschlossen.

Zitternd richtete er sich auf und betrachtete die Flasche im Schein der Leuchtstoffröhre über der Spüle. Schmuggelware, irgendein billiger Fusel, den Jörgen von seinen zwielichtigen Kontakten bezog. Dem Etikett nach Smirnoff, Flaschenform und Schraubverschluss passten jedoch nicht. Aber was machte das schon?

Erik schraubte die Flasche auf, spürte, wie der verführerische Duft in seine Nase kroch und Regionen seines Lustzentrums stimulierten. Seine Hände zitterten nicht mehr, sie bebten. Er hatte einen hohen Preis bezahlt, um der Sucht zu entkommen, er konnte es sich nicht leisten, all das aufs Spiel zu setzen. Er drehte die Flasche um und ließ die klare Flüssigkeit in die Spüle fließen, langsam, als bringe er ein Opfer dar. Plätschernd ergoss sich die Flüssigkeit ins Becken. Die Flasche wurde immer leichter.

Tränen brannten hinter seinen Lidern. Sein Puls hämmerte. Sein Kopf drehte sich vor Angst. Kristinas Tochter, gefangen in der Dunkelheit. Anna Fridhemssons Leiche, die so schwer gewesen war, als sie sie zu der Grube getragen hatten, die sie ausgehoben hatten. Seine Erpressung, damit er den Mund hielt.

Ehe Erik es sich versah, floss der Alkohol seine Kehle hinunter, rann über seine unrasierten Wangen, trieb die Tränen hinter seinen Lidern hervor und brannte wohltuend in seinem Magen. Er trank gierig, bis er nach Luft ringen musste, dann starrte er wie durch eine Nebelwand vor sich hin.

Zweihundertneunundachtzig Tage war er trocken gewesen, jetzt fing er wieder bei null an. Jonas durfte nichts davon erfahren, seine Chefin genauso wenig. Wenn er morgen früh aufwachte, würde er ihr eine SMS schreiben und sich krankmelden. Dann würde er seine Erpressung durchziehen, die Biege machen und irgendwo ein ruhiges Dasein fristen. In Norrland vielleicht.

Erik betrachtete den letzten Zentimeter Flüssigkeit, der noch auf dem Flaschenboden schwappte. Er wollte den Schluck schon in die Spüle kippen, als er es sich anders überlegte. Das sollte wirklich der allerletzte Schluck sein, den er in seinem Leben trank, und diesen Schluck würde er genießen. Danach würde er ein neues Kapitel aufschlagen, endgültig, und nie wieder zurückblicken.

Die Flasche in schlaffem Griff, schlurfte er zum Bett, stellte die Flasche neben das Kopfende auf den Fußboden und kauerte sich in Embryohaltung auf der Matratze zusammen. Während die Wände um ihn herum schwankten, ließ er seinen Tränen freien Lauf, bis der Schlaf ihn übermannte.