Robert brauchte nicht zu raten, welches Auto Maria fuhr, als sie um die Ecke bog und vor dem Eingang des Swania hielt. Die ursprüngliche dunkelgraue Metalliclackierung ihres alten Volvo ließ sich noch erkennen, aber der Glanz war im Lauf der Jahre abgestumpft, die Bremsbeläge schleiften, und der Motor stotterte unregelmäßig.
Maria lehnte sich über den Beifahrersitz und öffnete ihm die Tür.
»Steig ein«, sagte sie. Robert rutschte auf den Sitz und schnallte sich an. Im Wagen roch es nach Staub und Benzin, wie früher im Auto seines Großvaters, sodass er sich eigenartig geborgen fühlte. Und obwohl die Ledersitze ramponiert und verschlissen waren, saß er darin sehr bequem.
Maria warf ihm einen Seitenblick zu. »Ist irgendwas passiert? Du wirkst so anders.«
Einen Augenblick lang schoss ihm die Frage durch den Kopf, ob Kristina Maria von ihrer gemeinsamen Nacht erzählt hatte, doch dann begriff er, dass Kristina das niemals tun würde. Nicht Maria und nicht unter diesen Umständen. »Nein, nicht dass ich wüsste«, sagte er. »Wieso?«
Maria zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich schätze, ich bin es einfach nicht gewöhnt, Anzugträger zu chauffieren. Meistens sitzen uniformierte Kollegen neben mir, und der eine oder andere betrunkene Zeitgenosse auf der Rückbank, der in Gewahrsam genommen werden muss. Obwohl, wenn ich es recht bedenke, tragen einige von denen auch Anzüge.«
»Interessant«, sagte Robert. »Ist es weit?« Er hatte keine Lust auf Small Talk und wollte die Sache so schnell wie möglich über die Bühne bringen, damit jeder von ihnen zum Alltag zurückkehren konnte. Wie auch immer dieser Alltag in seinem Fall künftig aussehen mochte, seit sein Leben ein einziger Scherbenhaufen war.
»Nein, zehn Minuten vielleicht.« Maria hielt an einer roten Ampel. Sie seufzte. »Aber ich denke, wir sollten die Zeit nutzen, um uns abzusprechen. Was meinst du?«
Robert nickte. Maria hatte recht. Sie mussten eine Strategie entwickeln, damit Erik sie zu Mira führte.
»Ich habe darüber nachgedacht, was du Dienstagabend vor dem Hotel gesagt hast«, sagte Maria.
Robert musterte sie. Ihre Miene wirkte verbissen, ein ungewohnt entschlossener Zug umspielte ihre Wangenknochen. »Dass wir nach Annas Unfall gelogen haben, war ein schlimmer Fehler. Aber was wir hinterher getan haben, war noch viel schlimmer. Verstehst du? Ich weiß, dass wir unser Verhalten ein Leben lang bereut haben. Jeder von uns. Aber ist es nicht noch viel schlimmer, dass bis heute keiner von uns die Wahrheit gesagt hat?«
Robert sah sie eindringlich an. Die Entschlossenheit wich nicht aus ihrem Gesicht, während sie in Richtung Innenstadt fuhr, am Nils-Ericsson-Gymnasium vorbei und weiter nach Kronogården. Sie klang wie eine Predigerin bei einer Erweckungsveranstaltung.
»Ja, wahrscheinlich«, seufzte er. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie sein Leben verlaufen wäre, hätte er nicht all die Jahre an einer Lüge festgehalten, als wäre sie die einzige Wahrheit. Vielleicht wäre er nie Anwalt geworden, Erik hätte wohl nie Drogen genommen, und Mira … Mira wäre vielleicht von Anfang an als seine Tochter aufgewachsen. Der letzte Gedanke versetzte ihm einen Stich.
»Aber wir können jetzt nicht zur Polizei gehen«, widersprach er. »Falls es das ist, was du meinst. Damit würden wir uns nur tiefer in die Bredouille bringen, und Mira wäre dadurch nicht geholfen.«
Um ein Haar hätte er meiner Tochter gesagt, bekam aber gerade noch die Kurve.
»Nein, davon rede ich nicht«, sagte Maria. »Ich will damit sagen, dass diese Heimlichtuerei ein Ende haben muss. Sobald Mira in Sicherheit ist, müssen wir die Vergangenheit abhaken und nach vorne schauen.«
Robert spürte, wie der Druck auf seiner Brust nachließ. Er wollte nichts lieber als das. Er musste jetzt nach vorne schauen, mehr denn je. In diesem Punkt hatte Maria recht. Er hatte ihr Geheimnis sein Leben lang mit sich herumgeschleppt, wie ein boshafter Kobold hatte es auf seiner Schulter gehockt und ihm Gift ins Ohr geflüstert. Das hatte ihn Zuflucht suchen lassen bei allem, was seine Gedanken kurzfristig zerstreute: Partys, Frauen. Dieselben Dinge, die ihn am Ende zu Fall gebracht hatten. Dieselben Dinge, die ihn hierhergeführt hatten, auf den Beifahrersitz von Marias klapprigem Volvo, auf dem Weg zu ihrem ehemaligen Klassenkameraden. Zu Erik, zu dem alle aufgesehen hatten. Der unfehlbare Erik, der eine glänzende Zukunft vor sich gehabt hatte, der dem Druck jedoch nicht standgehalten hatte und auf dem Boden der Gesellschaft gelandet war.
Und der jetzt seine, Roberts, Tochter entführt hatte.
Etwas brodelte in seinem Inneren, etwas sehr viel Infameres als die Lüge, die er dort all die Jahre mit sich herumgetragen hatte. Maria hatte recht. Sie mussten einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen. Sobald Erik Stiernström Mira freigelassen hatte, würde er, Robert Silver, dafür sorgen, dass Erik den Preis für sein Verbrechen zahlte.
Denn das hatte er als Anwalt immerhin gelernt: Kaum jemand trauerte einem toten Junkie nach.
»Du hast recht.« Robert lächelte Maria an und wiederholte ihre letzten Worte, damit sie verstand, dass er einer Meinung mit ihr war. »Sobald Mira in Sicherheit ist, ist es Zeit, die Vergangenheit abzuhaken und nach vorne zu schauen.«
»Es ist längst überfällig«, sagte Maria. In diesem Moment bogen sie auf den Parkplatz vor den Hochhäusern am Lantmannavägen ein. Maria zog die Handbremse so heftig an, dass der Wagen schaukelte, dann sahen sie sich an.
»Bist du bereit?«, fragte Robert.
Maria holte tief Luft. »Ja.«
»Dann los.«