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Kristinas Blick wanderte vom Romanmanuskript auf dem Bildschirm zu ihrem klingelnden Handy.

Sie hatte die Polizei informiert, dass Journalisten und Fotografen ihr Haus umlagerten. Das Drohnengesurre war daraufhin verstummt, doch der Übertragungswagen von TV4 parkte unverändert in der Einfahrt des Nachbarn. Die eintreffenden Polizeibeamten hatten gemeint, der Sender habe eine private Absprache mit ihm getroffen, und was das anginge, seien ihnen die Hände gebunden. Kristina hatte diesen Nachbarn noch nie leiden können, und jetzt hatte sie den Beweis, dass die Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Das Auftauchen der Polizei war ohnehin sinnlos. Die Paparazzi waren längst zurück. Umzingelt und ohne ein Lebenszeichen von Mira hatte sie sich im Arbeitszimmer verschanzt und an ihrem neuen Kriminalroman gearbeitet, der Pechvögel heißen sollte. Es gab nichts, was sie sonst hätte tun können. Sie kam nicht aus dem Haus, und der Gedanke, wie Johan untätig herumzusitzen und zu warten, machte sie wahnsinnig. Beim Schreiben war es ihr bisher stets gelungen, den Verführungsversuchen der Flasche zu widerstehen. Der gestrige Alkohol steckte ihr noch in den Gliedern, und obwohl sie die treibende Kraft beim weiteren Verlauf des Abends gewesen war, verspürte sie einen Anflug von Scham.

Als sie Roberts Namen auf dem Display las, zuckte sie zusammen.

»Ja«, sagte sie mit belegter Stimme und räusperte sich.

»Ich bin’s«, sagte Robert. »Wir waren bei Erik.«

»Wie ist es gelaufen?«

Robert atmete schwer. »Er ist tot.«

Kristina richtete sich kerzengerade auf. »Was sagst du? Was ist passiert?«

»Es ging alles so schnell. Eben hat er noch gelebt, und plötzlich ist er tot.«

»Warte«, sagte Kristina. »Ich verstehe nicht. War er schon tot, als ihr gekommen seid, oder …«

»Wir haben ihn umgebracht.« Keiner von ihnen sagte etwas, bis Robert fortfuhr. »Es war ein Unfall.«

»Was ist passiert?«, fragte Kristina.

»Erik war betrunken. Die Situation ist eskaliert, wir sind beide handgreiflich geworden. Er ist gestürzt, es war keine Absicht. Dann haben wir ihn in die Badewanne gelegt, damit es so aussieht, als wäre er im Suff ertrunken.« Robert holte tief Luft. »Aber er kam wieder zu Bewusstsein, und da hat Maria ihn ertränkt.«

Kristina spürte, wie ein Blitz durch sie hindurchfuhr. Maria? Das hätte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht ausmalen können. »Was sagst du da?«, fragte sie ungläubig. Hastig warf sie einen Blick auf die Arbeitszimmertür. Aber sie war allein. Johan hockte vermutlich wie üblich im Wohnzimmer auf dem Sofa. Seit Miras Verschwinden schien er dort förmlich festgewachsen zu sein.

»Du hast mich verstanden«, erwiderte Robert. »Aber es spielt kein Rolle. Erik ist tot. Er kann nicht mehr zur Polizei gehen.«

»Aber er kann uns auch nicht mehr sagen, wo er Mira gefangen hält.« Ein leises Lächeln glitt über Kristinas Gesicht.

Nur noch drei Pechvögel im Spiel. Jetzt wurde es erst richtig spannend.

»Nein.« Robert seufzte. »Ich traue mich kaum, es zu sagen, aber gerade hoffe ich aus tiefster Seele, dass jemand anderes Mira entführt hat. Sonst habe ich keine Ahnung, wie wir weiter vorgehen sollen.«

Kristina nickte. Erik war das schwächste Glied, die Figur, die nichts zu verlieren hatte, die nur gewinnen konnte. Aber welcher Kriminalroman, der diese Bezeichnung verdiente, servierte den Täter auf einem silbernen Tablett? Der Gedanke an ihre Tochter, die an einem dunklen Ort gefangen gehalten wurde, bereitete ihr körperliche Schmerzen.

»Okay«, sagte sie und atmete schwer, um Robert zu signalisieren, dass die Entwicklung sie nicht kaltließ. »Wir müssen einen Schritt zurück machen und abwarten, ob der Entführer sich wieder meldet. Und dann müssen wir entsprechend handeln.«

»Ich hasse es zu warten«, sagte Robert. »Es geht um unsere Tochter. Ich will sie aus der Gewalt dieses Entführers befreien.«

»Das will ich auch, aber was können wir tun? Erik ist tot. Wenn er Mira nicht entführt hat, können wir nichts anderes tun, als zu warten. Du hast doch Maria nicht erzählt, dass du Miras Vater bist?«

»Nein, nein«, versicherte Robert. »Sie ist vor mir gegangen und allein weggefahren. Wir hielten es für klüger, Eriks Wohnung nicht gemeinsam zu verlassen.«

Erleichtert atmete Kristina aus. Die Situation war schon verfahren genug, Maria musste nicht mehr über Mira erfahren als unbedingt nötig. Dieses Detail war Roberts und ihr Geheimnis, und das würde es bleiben, ganz gleich ob alles andere ans Licht zu kommen drohte.

»Wie geht es dir?«, fragte sie.

»Ganz ehrlich? Ich bin am Boden. Alles wiederholt sich. Als Erik gestürzt ist und mit dem Kopf auf den Badewannenrand geschlagen ist, war es wie die Wiederholung von Annas Sturz.«

»Das kann ich verstehen.«

»Und Maria?« Robert verstummte. Wind rauschte in der Leitung, während er seine Schritte beschleunigte. »Plötzlich ist sie ein vollkommen anderer Mensch, ich fasse es einfach nicht. Sei froh, dass du nicht dabei warst. Was sie gemacht hat und wie ruhig sie dabei geblieben ist … Es war entsetzlich.«

Kristina nickte. »Ich kann es auch nicht glauben. Dass sie einen Unfall vertuschen wollte, gut. Aber Erik ertränken? Ich hätte nie für möglich gehalten, dass sie dazu fähig ist.«

»Niemand hätte das«, sagte Robert. »So was passiert in Filmen, nicht in der Realität.«

Kristina lächelte. Robert hatte recht. So etwas passierte in Filmen oder in Büchern. Und auch wenn es sicher schon im wahren Leben vorgekommen war – wer, wenn nicht sie, wusste, wie man wahre Ereignisse mit Fiktion ausschmückte, um sie zu Bestsellerstoff zu machen? –, gehörte es ganz bestimmt nicht zur Normalität.

»Können wir uns später treffen?«, fragte Robert. »Wir müssen besprechen, wie wir weiter vorgehen.«

Kristina kehrte in die Realität zurück. »Ja, wenn ich aus dem Haus komme.«

»Was meinst du?«

»Die Presse belagert uns. Die Paparazzi hocken buchstäblich auf den Bäumen. Sie haben sogar eine Drohne über Haus und Grundstück fliegen lassen.«

»Großer Gott, das ist doch nicht normal.«

»Nein, ist es nicht. Ich begreife nicht, was in den Köpfen der Leute vorgeht.«