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Als Maria in ihre Einfahrt einbog, schrammte der linke Außenspiegel am Torpfosten entlang und zersplitterte. Sie hielt an, schaltete den Motor aus und stieg aus dem Wagen. Als sie die Haustür aufschloss, schoss Mistel unter einem Busch hervor und strich ihr maunzend um die Beine. Maria zog ihre Jacke aus, nahm Mistel auf den Arm, kraulte sie unter dem Kinn und ging mit der schnurrenden Katze in die Küche.

Wie üblich füllte sie die Futternäpfe und setzte Teewasser auf. Knirschendes Trockenfutter zwischen Katzenzähnen, knisternde Teeblätter zwischen ihren Fingern. Die vertraute Geräuschkulisse konnte sie heute nicht beruhigen. Für gewöhnlich spendeten die weichen Kissen und Decken auf dem Sofa nach einem Dienst draußen in der Kälte Wärme und Geborgenheit. Doch heute hatte Maria das Gefühl, von ihnen erstickt zu werden, als sie sich mit dem Tee auf die Couch setzte und versuchte, nicht an Eriks aufgerissene Augen unter der Wasseroberfläche zu denken, seine fuchtelnden Arme, die versuchten, ihre Hände wegzustoßen.

Der Tee schwappte über, als sie den Becher abrupt auf den Tisch stellte und aufsprang. Mistel hob den Kopf und sah sie verwundert an. Erst jetzt fiel Maria auf, dass sie beim Füllen der Näpfe eine ganze Menge Futter verschüttet hatte. Warum hatte sie das nicht gemerkt? Sie schlug die Hände vors Gesicht und versuchte, ruhig zu atmen, ihre Gefühle nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Nicht wie damals. Doch vergeblich. Sie kamen trotzdem. Ihre Beine gaben unter ihr nach, sie sank aufs Sofa zurück und brach in Tränen aus.

Erinnerungen überlagerten sich. Eriks aufgerissene Augen, Annas ausgestreckte Hand. Das traurige Lächeln ihrer Mutter.

Maria stand auf und lief rastlos auf und ab, bis sie sich am Fuß der Treppe wiederfand und merkte, dass sie die geschlossene Tür am oberen Treppenabsatz anstarrte. Die Tür zog sie an wie ein schwarzes Loch, in das sie hineinzustürzen drohte. Sie stolperte die Treppe hinauf und rüttelte an der Klinke. Die Tür ging nicht auf. Natürlich nicht, sie hatte sie abgeschlossen, damit sich der Vorfall von neulich nicht wiederholte. Auch gut, dort drinnen gab es nichts. Dort herrschten Leere und Dunkelheit, genau wie in ihrem Inneren.

Anna war eine Sache. Abgesehen davon, dass sie all die Jahre geschwiegen hatte, hatte sie sich nichts zuschulden kommen lassen. Doch wäre Annas Tod nicht gewesen, wäre sie zu dem, was sie später getan hatte, niemals imstande gewesen. Obwohl der Raum hinter der verschlossenen Tür leer war, vernahm Maria unverändert die leisen Geräusche der Geräte. Geräte, die ihre Mutter am Leben erhalten hatten.

Maria und ihre Mutter hatten gemeinsam mit den behandelnden Ärzten entschieden, dass Anne-Marie Andersson ihre letzten Tage zu Hause in ihrer vertrauten Umgebung verbringen sollte. Im Krankenhaus konnten sie nichts mehr für sie tun. Der Tumor hatte schon zu stark gestreut. Es war nur noch eine Frage der Zeit. Zeit, die sie im Krankenhaus verbringen konnte oder mit ihrer Tochter, in der Geborgenheit des Hauses, das sie liebte.

Das ehemalige Arbeitszimmer ihres Vaters wurde ausgeräumt, und auf dem echten Teppich, den Anne-Marie auf einem Istanbuler Basar erstanden hatte, im selben Jahr, in dem sie Anders kennenlernte, Marias Vater, wurde ein Krankenbett aufgestellt, daneben ein Beatmungsgerät und Ständer mit schmerzlindernden Infusionen, Nahrungsmittellösungen sowie ein Vitaldatenmonitor.

Maria ließ sich vom Dienst beurlauben und saß den ganzen Tag und den Großteil des Abends am Bett ihrer Mutter, trug den Fernseher hinauf ins Obergeschoss und schaute mit ihr ihre Lieblingssendungen.

Sie las ihrer Mutter vor, Bücher, die ihre Mutter mochte, und Bücher, von denen sie hoffte, dass sie ihr gefielen. Es ließ sich unmöglich sagen. Anne-Maries Gesicht hatte jeglichen Ausdruck verloren. Jede Miene produzierte die gleiche Menge Speichel im Mundwinkel.

Doch hin und wieder verrieten ihre Augen, dass in dieser reglosen Hülle doch noch etwas von ihrer Mutter vorhanden war. Manchmal leuchteten ihre Augen auf, als wollte sie sich bei ihrer Tochter bedanken oder ihr sagen, dass sie sie liebte. Manchmal wurden sie matt und füllten sich mit Tränen. Maria hatte keine Ahnung, ob aus Schmerz oder aus Angst, weil ihr Leben sich dem Ende zuneigte.

Wenn ihrer Mutter die Tränen kamen, trocknete Maria sie. Sie wusch ihre Mutter mit feuchten Waschlappen, wechselte Beutel mit Exkrementen und Urin aus. Abend für Abend blickten Anne-Maries Augen länger und tiefer in Marias Seele hinein, als würde Anne-Marie um etwas bitten, das sie nicht in Worte fassen konnte. Doch irgendwann schlief sie ein, dann schlich Maria in die Küche hinunter und verschlang Mikrowellenfertiggerichte, um ihren Heißhunger und ihre Gewissensbisse zu stillen, weil sie ihre Mutter mit den Geräten allein ließ. Ihre Gedanken und Emotionen verstrickten sich zu einem unentwirrbaren Knäuel. Wenn sie im Dunkeln in ihrem Schlafzimmer lag, starrten Anna Fridhemssons Augen sie an, wurden größer und größer, während die Welt sich ringsum blutrot färbte.

Eines Nachts war sie wie so oft schweißgebadet und mit klopfendem Herzen aus dem Schlaf gefahren, überzeugt, ihre Mutter sei gestorben. Doch als sie nach ihr sah, war nichts geschehen. Ihre Mutter war wach. Ihre Augen schwammen in Tränen, und als sie Maria ansah, zog ihr Blick Maria wie ein Magnet an. Maria hatte sich auf die Bettkante gesetzt und ihrer Mutter die Stirn gestreichelt, ohne ihren flehenden Blick auch nur eine Sekunde loszulassen.

In diesem Moment stupste Mistel sie mit der Pfote an und holte sie in die Gegenwart zurück. Maria nahm sie auf den Arm und vergrub das Gesicht im Katzenfell. Irgendwann griff sie nach dem Telefon und rief Kristina an.

»Ich habe meine Mutter getötet«, sagte sie.