Kristina wusste nicht, was sie erwidern sollte. Aus Marias wirrem Gestammel wurde sie nicht schlau.
»Maria«, sagte sie und schloss leise die Arbeitszimmertür, damit Johan nicht hörte, dass sie telefonierte. »Ich verstehe nicht, wovon du redest. Geht es dir gut?«
»Nein«, stieß Maria mit tränenerstickter Stimme hervor. »Nein, mir geht es nicht gut. Ich habe sie getötet, hörst du, was ich sage?« Den letzten Satz zischte Maria.
»Nein, Maria, ich verstehe nicht. Warum redest du von deiner Mutter?«
»Sie hatten alle den gleichen Blick. Anna, Erik und meine Mutter. Ich habe sie alle umgebracht.«
»Maria, entschuldige, aber ich verstehe wirklich nicht, wovon du redest.«
»Dann hör mir zu, nur dieses eine Mal! Ich schwöre, danach dreht sich wieder alles um dich und deine Tochter, aber gerade geht es ausnahmsweise einmal um mich!«
Kristina zuckte zusammen. Noch nie hatte sie Maria so entschlossen gehört. Sie setzte zu einer Erwiderung an, aber die Worte wollten nicht kommen, also wartete sie, bis Maria weitersprach.
»Sie hatte nicht mehr lange«, sagte Maria. »Sie lag in ihrem Krankenhausbett, angeschlossen an Apparate, mit einem Schlauch in der Nase, und konnte nur noch atmen, schlafen und intravenös ernährt werden. Das ist kein Leben, für niemanden, und jeden Abend hat sie mich angefleht, sie von ihrem Leiden zu erlösen. Ich schwöre, dass sie es getan hat.«
Kristina nickte, obwohl sie wusste, dass Maria es nicht sah. Sie hatte damit gerechnet, dass Maria nach Eriks Tod das Gespräch mit ihr suchen würde, aber das hier?
»Am letzten Abend habe ich sie gefragt, was sie möchte«, sagte Maria. »Sie konnte nicht mehr sprechen, nur noch röcheln, aber ich wusste, was es bedeutete. Also habe ich das Beatmungsgerät ausgeschaltet und sie in den Armen gehalten, bis es vorbei war.«
Kristinas Puls schlug schneller. Nicht einmal sie, die ihre Tage damit verbrachte, reale Mordfälle auf die makabersten Arten nachzuerzählen, konnte sich vorstellen, wie sich das angefühlt haben musste. »Es tut mir so leid«, sagte sie so leise, dass sie nicht wusste, ob Maria es hörte.
»Am nächsten Morgen habe ich im Krankenhaus angerufen. Sie haben das Bett und die Geräte abgeholt. Seitdem steht der Raum leer. Ich kann ihn nicht mehr betreten. Damals habe ich nicht verstanden, wie ich das tun konnte, wie ich ihr Leben auslöschen konnte, aber heute verstehe ich es.« Maria holte tief Luft. »Es war wegen Anna. Mit Anna hat alles angefangen. Ich habe geglaubt, mich von alldem abschotten zu können, indem ich mich so weit vom Leben zurückziehe, wie es nur geht, aber das war ein Trugschluss. Die Wahrheit holt einen immer ein.«
»Maria, es ist nicht deine Schuld. Du hast es selbst gesagt, deine Mutter wollte nicht mehr leben. Du hast sie erlöst.«
»Nein!«, schrie Maria. »Ich bin eine Mörderin. Ich habe sie ermordet. Ich! Es spielt keine Rolle, was sie wollte. Ich habe das Beatmungsgerät abgeschaltet. Und ich habe Erik ermordet. Ich allein!«
Kristina schwieg. Maria atmete heftig. »Aber weißt du, was das Schlimmste ist?«
»Nein.«
Kristina konnte nicht sagen, ob Maria lachte oder weinte, als sie fortfuhr. »Das Schlimmste ist, dass es jedes Mal leichter wird.«
»Maria …«, begann Kristina, doch Maria schnitt ihr das Wort ab, als hielte sie einen Theatermonolog. »Du weißt, dass ich Annas Tod nie überwunden habe. Es war ein Unfall, das weiß ich, aber sie hatte das Recht zu leben. Erik … Erik hat sein Recht auf Leben verwirkt, indem er deine Tochter entführt hat. Er konnte genauso gut sterben. Aber außer dir weiß niemand, dass ich meine Mutter umgebracht habe. Ab jetzt musst du also noch ein Geheimnis bewahren.«
»Und ich werde es niemals jemandem erzählen, du hast mein Wort.« Fast hätte sie hinzugefügt, dass auch sie weitere Geheimnisse hütete, biss sich jedoch auf die Zunge. Jetzt war nicht der richtige Moment.
»Ich weiß.« Marias Stimme klang auf einmal seltsam abwesend. »Ich weiß. Aber was tun wir jetzt?«
Kristina seufzte. »Mira ist noch immer verschwunden«, sagte sie. »Wir müssen sie irgendwie finden.«
»Erik kann uns nicht mehr sagen, wo sie ist«, erwiderte Maria. »Gott, was habe ich nur getan? Was ist, wenn Mira meinetwegen irgendwo verhungert und verdurstet?«
Kristina lächelte. Mira würde nirgendwo verhungern oder verdursten, nicht wenn sie, Kristina, ihren Willen bekam.
Laut sagte sie: »Ich weiß nicht … Zuerst war ich überzeugt, dass Erik Mira entführt hat, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher.«
»Warum nicht?«
»Es ist nur so ein Gefühl.« Kristina zog Miras Handy aus der Hosentasche. »Ich glaube, dass jemand anderes hinter der ganzen Sache steckt, und ich habe auch schon einen Verdacht.«
»Wer ist es?«
»Das möchte ich nicht sagen, bevor ich hundertprozentig sicher bin.« Kristina lächelte wieder. »Aber vielleicht errätst du es.«