Maria ging in den Hausflur und nahm das Tagebuch aus der Jackentasche. Es glich eher einer Kladde als einem Buch. Der Einband war abgestoßen und klebrig. Sie mochte gar nicht daran denken, wo und wie es sein Dasein gefristet hatte.
Ihre Hände zitterten. Es fühlte sich falsch an, Eriks Tagebuch zu lesen. Der Inhalt war weder für sie noch sonst jemanden gedacht, er war einzig und allein für Erik Stiernström bestimmt. Aber Erik war tot, und sie hatte ihn ermordet. War es nicht ein Hohn, sogar eine Sünde, dass ausgerechnet sie Eriks intimste Gedanken las? Maria zögerte. Sie war unwürdig. Trotzdem hatte sie keine Wahl. Was, wenn in dem Tagebuch ein Hinweis stand, der sie zu Mira führte?
Sie holte tief Luft und schlug das Buch auf. Auf den ersten Seiten hatte Erik in sauberen Druckbuchstaben geschrieben, im weiteren Verlauf wechselte seine Schrift sprunghaft zwischen unleserlich und schlampig. Hin und wieder waren die Einträge datiert, überwiegend schien er jedoch willkürlich die nächste freie Seite aufgeschlagen zu haben. An einigen Stellen gingen die Sätze über die Linien des Papiers hinaus und kletterten am Zeilenende schräg nach oben, sodass Maria das Buch drehen musste, um die Wörter zu entziffern.
Lesend ging sie zurück in die Küche und setzte sich an den Tisch. Im Licht der Deckenlampe deutete sie die unleserlichsten Stellen. Dass Erik Ängste geplagt hatten, wusste sie bereits. Doch mit jedem Satz kristallisierte sich unbehaglich deutlich heraus, wie schlimm es wirklich um ihn gestanden hatte. Die Notizen offenbarten ein Auf und Ab positiver und negativer Phasen. Nicht nur die Handschrift, auch der Wortlaut spiegelte seine psychische Verfassung wider. An schlechten Tagen war der Stil wirr und fragmentarisch, an besseren hatte Erik vollständige Sätze gebildet, die kaum Rechtschreibfehler aufwiesen. Doch aus jedem Eintrag sprach die Angst, egal ob er sie explizit benannte oder nicht. Mitunter gab es Lichtblicke, doch sie waren rar und lagen zeitlich weit auseinander. Gute Momente, schöne Erinnerungen. Freundschaft. Eine kurze, aber intensive Liebe. Versuche, in ein normales Leben zurückzufinden, die jedoch allesamt gescheitert waren und neue Drogenexzesse und Selbstzerstörung ausgelöst hatten.
Ein Eintrag, in dem Erik Selbstmordabsichten ankündigte, wies Blutspritzer auf. Aber schon auf der nächsten Seite schrieb er, dass auch dieser Versuch gescheitert sei. Eriks Worte verstärkten Marias Mitgefühl für ihn. Sein Leidensweg, die vielen Prüfungen, vor die ihn das Leben gestellt hatte, lagen schwarz auf weiß vor ihr. Das war mehr, als sie ertragen konnte.
Und immer wieder kam er auf Anna Fridhemsson zu sprechen, schrieb, dass sie ihn in jedem wachen Moment verfolgte. Alle seine Ängste kreisten um dieselbe Frage: War Annas Tod ein Unfall gewesen oder hatte er sie im Zorn getötet?
Ab und zu schrieb er auch von ihnen, von Kristina, Robert und Maria. Und sein Hass trat offen zutage. Er gab ihnen die Schuld und warf ihnen vor, ihn zum Schweigen gezwungen zu haben. Doch genauso oft kamen ihm Zweifel, und er nahm die gesamte Schuld auf sich. Aber das schmälerte nicht die Abscheu, die er ihnen gegenüber empfand. Er hasste sie alle aus tiefster Seele, Maria vielleicht nicht ganz so sehr wie Robert und Kristina.
Gegen Ende veränderten sich die Texte schlagartig. Zwischen den Einträgen musste ein größerer Zeitraum verstrichen sein, denn von einer Seite auf die andere waren sie plötzlich reflektiert und klar strukturiert. Und Maria kannte einige Ereignisse, über die Erik schrieb. Dass er sich aus dem Alkohol- und Drogensumpf herausgekämpft und sogar seine alten Dämonen besiegt hatte, um das Tagebuch aus einer ehemaligen Absteige zu holen, nur um erneut in eine ausweglose Situation zu geraten. Dass ein Saufkumpan namens Jörgen ihn mit angeblichen Schulden erpresste, während ein Unbekannter Kristinas Tochter entführt hatte. Dass er beschlossen hatte, Profit aus Miras Entführung zu schlagen, um seine Schulden zu begleichen, und dass er sich dafür verachtete.
Erik war verzweifelt gewesen, aber er hatte Mira nicht entführt, so viel stand fest – jedenfalls wenn das, was er geschrieben hatte, der Wahrheit entsprach. Maria ließ das Buch sinken. Die Erleichterung, dass Eriks Tod nicht bedeutete, dass Mira rettungslos verloren war, vermischte sich mit ihrem Entsetzen, einen unschuldigen Menschen getötet zu haben. Gleichzeitig dankte sie ihren glücklichen Sternen, dass sie das Tagebuch gefunden und mitgenommen hatte. Es stellte Robert, Kristina und sie als potenzielle Verdächtige heraus. Diese Gefahr war gebannt, zumindest für den Moment.
Maria griff nach ihrem Handy, um Robert anzurufen und ihm zu erzählen, worauf sie in Eriks Tagebuch gestoßen war, als sie sah, dass Kristina ihr eine Nachricht geschickt hatte. Es war ein Foto, eine verwackelte Aufnahme von Miras Handy, sie erkannte das pinkfarbene Gehäuse wieder. Maria zoomte das Bild näher heran.
Auf dem Display stand eine Nachricht. Der Text war unscharf, die Botschaft dafür unmissverständlich.
So simpel war es nicht. Hunderttausend Kronen für Miras Leben.
Die Nachricht war vor einer Viertelstunde eingegangen, Stunden nach Eriks Tod. Dass die Lösegeldsumme exakt Eriks Forderung entsprach, schien lediglich ein unglücklicher Zufall zu sein.
Wer hielt Mira gefangen?