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Robert presste das Telefon so fest ans Ohr, dass es schmerzte, und blickte zum zigsten Mal aus dem Fenster auf Kristinas Haus. Es war dunkel geworden, und die weiße Fassade wurde nur von den Straßenlaternen am Fuß der Anhöhe im Vänersborgsvägen erleuchtet. Der fahle Schein spiegelte sich in den Fenstern, doch aus dem Haus selbst drang kein Licht. Als er die Augen zusammenkniff, entdeckte er am unteren Rand der Fenster, unterhalb der letzten Lamellen, einen schwachen Schimmer. Es verlieh dem Haus etwas Geisterhaftes.

Egal wohin er blickte, Kristinas Haus war überall. Es thronte auf der anderen Seite des Flusses und nahm den Fernsehbildschirm ein, als die Nachrichten über die jüngsten Entwicklungen im Vermisstenfall Mira Stare berichteten. Die Polizei hatte offiziell bestätigt, dass die Suche nach Mira eingestellt war und sie neuen Theorien nachgingen. Die Reporterin zog den offensichtlichen Schluss: Der Fund des in Miras Jacke gehüllten menschlichen Skeletts sprach für ein Gewaltverbrechen.

Bisher hatten weder Presse noch Polizei eine Verbindung zu dem fünfundzwanzig Jahre alten Vermisstenfall gezogen. Aber es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis jemand seine Hausaufgaben machte, dachte Robert. Doch dieses Problem konnten sie angehen, wenn es so weit war.

Es knisterte in der Leitung, als Kristina sich meldete.

»Ja?«, sagte sie atemlos. Er hörte einen eigenartigen Widerhall.

»Wo bist du?«, fragte er.

»Was spielt das für eine Rolle? Was willst du?«

Robert runzelte die Stirn. Warum klang sie so abweisend? Oder bildete er sich das nur ein? Sah er inzwischen überall Gespenster? Er hatte zu viel Zeit mit Verschwörungstheorien über Maria zugebracht. »Ich habe nachgedacht«, sagte er. »Jetzt, wo Erik aus dem Spiel ist.«

»Ich habe mir auch meine Gedanken gemacht«, sagte Kristina. Das Knistern wurde lauter und ihre Stimme leiser.

»Was ist das für ein Geräusch?«, fragte er.

»Entschuldige, ich habe mein Headset auf. Das Mikrofon ist in den Kragen gerutscht.«

»Okay. Ich frage mich, ob Erik wirklich etwas mit Miras Entführung zu tun hatte.«

»Das glaube ich nicht. Nicht, seit diese neue SMS auf Miras Handy eingegangen ist«, erwiderte Kristina. »Hast du das Foto bekommen? Erik ist tot, er kann die SMS nicht geschrieben haben.«

Robert nickte und setzte sich aufs Bett, den Blick unverwandt auf Kristinas Haus gerichtet. »Die Frage ist, wer hat sie dann entführt? Ich habe eine Theorie.«

»Ich auch«, sagte Kristina. »Willst du anfangen, oder soll ich?«

»Ich kann anfangen«, sagte Robert. »Ich habe Mira nicht entführt, und sie ist deine Tochter.« Er verstummte. Bis vor Kurzem waren diese Worte die volle Wahrheit gewesen. Jetzt waren sie grundverkehrt. »Unsere Tochter«, korrigierte er sich. So fühlte es sich besser an. Und zugleich so viel grausamer. Jemand hatte seine Tochter entführt!

»Da hast du recht«, sagte Kristina. »Wer, denkst du, steckt dahinter?«

»Maria«, sagte Robert.

»Warum glaubst du das?«

»Das ist die einzige logische Erklärung. Sie weiß, dass weder du noch ich sie verdächtigen würden. Was, wenn Erik gewusst hat, dass Maria Mira entführt hat, und ihr gedroht hat, zur Polizei zu gehen? Dann hätte sie einen guten Grund gehabt, ihn aus dem Weg zu räumen. Sie hat bewiesen, dass sie zu einem Mord fähig ist. Da ist eine Entführung doch nicht aus der Luft gegriffen?«

Kristina schwieg. In der Leitung rauschte es wieder. Waren das Autos? Doch bevor er die Hintergrundgeräusche analysieren konnte, antwortete Kristina. »Ich denke ähnlich wie du. Und eins noch. Nach Erik hat Maria am wenigsten zu verlieren, wenn die Wahrheit über Anna ans Licht kommt, und sie weiß, dass wir das nicht riskieren können. Meine Schriftstellerkarriere wäre aus und vorbei, und du würdest aus der Anwaltskammer ausgeschlossen werden, oder nicht?«

»So sicher wie das Amen in der Kirche«, bestätigte Robert. »Ehrlich gesagt ist meine Anwaltskarriere ohnehin schon im Eimer, aber das würde mir endgültig das Genick brechen, zweifellos.«

»Wie auch immer«, sagte Kristina. »Wir beide müssen das Spiel fortsetzen. Das weiß Maria. Sie könnte nicht mehr als Polizistin arbeiten, wenn die Wahrheit herauskommt. Aber sie weiß, dass wir es nicht so weit kommen lassen. Also kann sie uns erpressen, ohne zu befürchten, dass wir sie bei der Polizei anschwärzen.«

»Was sollen wir tun?«, fragte Robert.

»Wir warten«, antwortete Kristina. »So unerträglich es auch ist, untätig herumzusitzen, aber wir müssen Marias nächsten Zug abwarten und uns vergewissern, dass unser Verdacht zutrifft. Sie darf auf gar keinen Fall merken, dass wir sie verdächtigen.«

Robert nickte. Regen hatte eingesetzt, Tropfen prasselten gegen das Fenster. In der Leitung rauschte es wieder, als liefe Kristina an einer stark befahrenen Straße entlang.

»Bist du draußen?«, fragte er. »Ich dachte, die Presse belagert dein Haus.«

»Ich sitze auf der Rückseite im Garten«, sagte Kristina. »Ich kann nicht den ganzen Tag im Haus hocken und die Wände anstarren.«

Robert hob die Augenbrauen und blickte wieder in Richtung Fagerstrandsbacken. Er wusste, wo die Rückseite von Kristinas Haus lag, er konnte die Umrisse der Thujahecke in der Dunkelheit ausmachen. Aber da hörte man doch nicht so laute Verkehrsgeräusche. Oder doch?

»Wie erfahren wir bis dahin, ob es Mira gut geht?«, fragte er.

»Wir müssen einen Beweis verlangen, dass sie unversehrt ist. Gott, dass ich nicht längst daran gedacht habe!« Kristinas Stimme versagte, sie begann zu weinen. »Aber wie?«

Robert kam eine Idee. »Wir benutzen Miras Handy«, sagte er. »Warum hätte Maria es uns sonst finden lassen? Dies ist schließlich kein Kriminalroman, wo solche Schachzüge eingebaut werden, um die Spannung zu steigern.«

»Du hast recht«, stimmte Kristina ihm mit tränenerstickter Stimme zu. »Ich schreibe sofort eine SMS. Ruf Maria an, wir müssen uns morgen früh treffen.«