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Leichten Schrittes und mit einem Lächeln auf den Lippen ließ Kristina Marias Haus hinter sich zurück. Mira wäre bald frei, das spürte sie. Um nicht den Marktplatz überqueren zu müssen, vermied sie den direkten Heimweg, huschte durch schmale Seitengässchen und nahm den Umweg über die Eisenbahnbrücke und das Industriegebiet Källstorp. Das Risiko, dass sie dort jemand erkannte oder dass sie irgendeinem Klatschreporter begegnete, war so gut wie ausgeschlossen.

Sie durfte jetzt nicht den Fokus verlieren. Erst wenn Mira wieder zu Hause und die ganze Sache ausgestanden wäre, würde sie aufatmen können. Sie umrundete eine Straßenecke unweit des Busbahnhofs. Sie befand sich in direkter Nachbarschaft des Gebäudes, in dem zu ihrer Schulzeit die Druckerei der Trollhättans Tidning untergebracht gewesen war. Heute arbeitete dort die Redaktion der neuen Lokalzeitung. Sie hatte keine Ahnung, ob das Gebäude noch andere Gewerbe beherbergte, aber manchmal fragte sie sich, ob in einem der Räume eine riesige Druckpresse stand, die niemand mehr betätigte.

Damals, vor fünfundzwanzig Jahren, hatte die Trollhättans Tidning über den tragischen Unfall berichtet, bei dem die zwölfjährige Anna Fridhemsson ums Leben gekommen war. Sie hatten sogar ein Foto gebracht – von Kristina, die in ihren Neunzigerjahreklamotten am Ufer stand und mit traurigem Blick den Göta älv hinunterdeutete. »Hier ist sie ins Wasser gefallen«, hatte die Bildunterschrift gelautet.

Halte durch, mein Schatz, dachte Kristina. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Sie musste nur dafür sorgen, dass Maria und Robert weiter die Rollen spielten, die sie ihnen zugewiesen hatte. Eigentlich machte sie sich keine Sorgen. Maria und Robert waren wie alle anderen Figuren des Manuskripts, das zu Hause auf sie wartete. Mitunter waren die Charaktere störrisch und weigerten sich, das zu tun, was sie ihnen zugedacht hatte, doch am Ende fügten sie sich in den Plot ein. Taten sie es nicht, strich sie sie – oder ermordete sie. Wie Erik Stiernström. Er war ein bisschen zu vorlaut geworden, ein bisschen zu selbstgewiss. Damit hatte er sein Schicksal selbst besiegelt.

Romanfiguren besaßen ihren eigenen Willen, das hatte Kristina früh in ihrer Schriftstellerkarriere gelernt. Sie mussten zu allem gezwungen werden. In dieser Hinsicht waren reale Menschen einfacher. Von realen Menschen verlangte niemand, dass sie sich stets erwartungsgemäß verhielten.

Kristina beschleunigte ihre Schritte. Am Hallenbad Älvhogsborg blieb sie stehen und blickte durch den Zaun auf die herbstlich leeren Außenbecken. Als Jugendliche hatte sie hier tausendmal gebadet. Hatte mit Jungs geflirtet und war vom Fünfmeterturm gesprungen. Auf den Zehner hatte sie sich nicht getraut, aber sie hatte sich einen Spaß daraus gemacht, die größten testosterongesteuerten Aufschneider die Stufen hochzulocken und dabei zuzusehen, welche sprangen und welche die Leiter wieder herunterkletterten und mit eingezogenem Schwanz das Weite suchten. Menschen waren so vorhersehbar, wenn man die richtigen Fäden zu ziehen verstand.

Als sie in Sichtweite der Eisenbahnbrücke kam, nahm sie ihr Handy aus der Handtasche und schrieb Robert eine SMS. Es war an der Zeit, ordentlich im Wespennest zu stochern.

– Damit du Bescheid weißt, Maria behält dich im Auge.

Kristina blieb in der Mitte der Brücke stehen und blickte auf das Wasser, das in Richtung Stadt floss. Leichte Nebelschleier strichen über den Fluss. Zufrieden lächelnd schob sie das Telefon zurück in ihre Handtasche und atmete befreit durch, füllte ihre Lunge mit klarer Herbstluft.

Es ist so schön hier, dachte sie. Seltsam, dass man es so schnell vergaß.