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Behutsam führte Kristina ihren Mann zurück ins Wohnzimmer, wo er wie ein Sack Kartoffeln aufs Sofa fiel. Im Raum brannte kein Licht, nur der Schein des Fernsehbildschirms traf auf sein Gesicht und vertiefte die dunklen Ringe unter seinen Augen.

Kristina blickte zum Fernseher. Die Nachrichten waren von seichter Sonntagabendunterhaltung abgelöst worden. Noch hatten die Medien keinen Wind davon bekommen, dass es sich bei dem vermissten Mädchen um die Tochter der berühmten schwedischen Kriminalschriftstellerin handelte. Doch das war nur eine Frage der Zeit. Früher oder später würden sie versuchen, ein Statement von ihr zu ergattern, aber einstweilen war der Sturm noch nicht ausgebrochen. Nicht einmal ihre Literaturagentin oder ihre PR-Agentur wusste Bescheid.

»Schalt das aus«, sagte sie und setzte sich neben Johan aufs Sofa, während sie versuchte, das fröhliche Gedudel der Musikshow auszublenden. »Ich habe keine Nerven für diesen Mist.«

Johan streckte sich nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher aus. Dann stützte er die Ellbogen auf die Knie, vergrub das Gesicht in den Händen und atmete tief ein, bemüht, nicht in Tränen auszubrechen. Eine Weile hatte keiner von ihnen die Kraft, etwas zu sagen. Kristinas Blick wanderte zum Bücherregal. Auf dem obersten Bord reihten sich Ausgaben ihrer eigenen Titel aneinander, viele davon in Sprachen, die sie nicht beherrschte, übersetzt von Menschen, denen sie nie begegnet war. Sie schüttelte den Kopf. Was sollte sie sagen, wenn die Presse vor ihrer Tür erschien? Sie konnte ihnen schlecht die gleiche Story wie beim letzten Mal auftischen. Eine Homestory für irgendeine Frauenzeitschrift, welche, hatte sie vergessen. Sie erinnerte sich nur, dass Johan und sie das Haus im Vorfeld vom Keller bis zum Dach geputzt hatten, damit alles perfekt aussah. Einen ganz normalen chaotischen Wochentag im Leben von Schwedens True-Crime-Königin konnte sie ihren Fans nicht präsentieren. Sie musste den schönen Schein wahren.

Die Zeitschrift hatte ihr kein Honorar gezahlt. Zunächst hatte sie darauf bestanden, die Kondition dann jedoch zähneknirschend akzeptiert und gehofft, es würde bei den Tantiemen zu Buche schlagen. Sie hatte die Reporter mit einem strahlenden Lächeln in ihrem Zuhause willkommen geheißen und auf alle Fragen bereitwillig geantwortet. Jetzt trocknete ihre Mundhöhle allein beim Gedanken daran aus, mit jemandem über das Geschehen zu sprechen.

Schon damals kursierte das Gerücht, bei Kristina Stare sei nicht alles Gold, was glänzte. Ihr auf Hochglanz poliertes Heim versteckte die Unordnung hinter den Türen, die der Fotograf nicht öffnen durfte, das Chaos war hinter Schranktüren gezwängt und unter Teppiche gekehrt, auf dieselbe Weise, wie sie ihre Probleme hinter einer Fassade aus Glamour und Opulenz verbarg, die jeden Moment bröckeln konnte. Ihre Bücher verkauften sich gut. True Crime war zurzeit das angesagteste Genre. Und ihre Geschichten trafen bei Verlagen und Lesern weltweit einen Nerv, die Einnahmen waren nicht das Problem. Sondern die Ausgaben. Sie pflegte einen aufwändigen Lebensstil. Nonstop neue Kleider und neuer Schmuck, Gesichtsbehandlungen und Botox. Sie konnte es sich noch nicht leisten zu altern. Eigentlich sollte sie von ihren Mitgliedschaften in diversen Fitnessstudios Gebrauch machen, zog aber lange Spaziergänge schweißtreibenden Trainingseinheiten mit Personal Trainern vor, und bisher blieb sie damit fit.

Hinzu kamen kostspielige Restaurantbesuche, wenn sie sich unter die schwedische Schriftstellerelite mischte. Ruhm war teuer, und wenn der Druck sie zu ersticken drohte, kaufte sie Möbel oder irgendwelchen Dekokram fürs Haus, um Johan zu zeigen, dass sie nicht alles für Feste und Partys aus dem Fenster warf.

Doch jedes Übel brachte auch etwas Gutes mit sich. Miras Verschwinden würde, nicht zuletzt seit dem makabren Skelettfund, die Verkaufszahlen ihrer Bücher in die Höhe schnellen lassen. Das hieß, sobald die Nachricht von Miras Entführung an die Presse drang. Oder … Wie konnte sie so etwas überhaupt nur denken? Kristina schüttelte unwillig den Kopf und legte Johan die Hand auf die Schulter.

»Du bist seit fast zwei Tagen wach«, sagte sie sanft. »Vielleicht sollten wir versuchen zu schlafen.«

»Ich kann nicht.« Johans Stimme klang heiser. Er hob den Kopf und sah sie an. »Welcher kranke Mensch tut so etwas?«

»Ich wünschte, ich wüsste es.«

»Und dabei schreibst du über solche Menschen.«

Kristina blickte an die Zimmerdecke und atmete tief ein. Johan hatte recht. Die Menschen, über die sie schrieb, hatten weit schlimmere Dinge getan. Hatte das ihre Empathiefähigkeit abstumpfen lassen? Immerhin war sie diejenige, die einigermaßen die Nerven behielt, während Johan vor Sorge um Mira keinen einzigen klaren Gedanken fassen konnte.

Liebt er Mira mehr als ich?

Vielleicht. Vermutlich. Kristina schob den Gedanken beiseite und strich Johan erneut über die Schulter. Es fühlte sich verlogen an.

»Ich kann nicht untätig herumsitzen«, sagte sie. »Ich muss etwas tun. Frische Luft schnappen, schreiben. Was auch immer, aber ich kann nicht einfach im Dunkeln sitzen und vor mich hin starren.« Wie Mira es tat.

Johan betrachtete den ausgeschalteten Fernseher. Der schwarze Bildschirm schimmerte in der Dunkelheit. »Tu, was du willst. Ich bleibe hier.«

»Möchtest du eine Decke haben?«

Er nickte stumm. Kristina nahm eine Wolldecke von der Sofalehne und legte sie Johan um die Schultern. Dann ging sie vor ihm in die Hocke.

»Sie werden Mira finden«, sagte sie mit so viel Zuversicht in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. »Auch wenn es gerade schwerfällt, daran zu glauben, aber die Polizei wird sie finden. Okay?«

Johan kämpfte gegen die Tränen an. Kristina nahm seine Hände in ihre und drückte sie.

Gebe Gott, dass dies alles bald ein Ende hätte.