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Maria ließ ihr Auto am Marktplatz zurück und lief über die Klappbrücke in Richtung Fagerstrandsbacken. Sie hielt den Kopf gesenkt und starrte auf den Asphalt. Ihr Kopf fühlte sich an, als würde er gleich platzen, und sie wollte entgegenkommenden Passanten nicht in die Augen schauen. Wie war sie bloß an diesen Punkt geraten? Ausgerechnet sie, die sich nichts anderes gewünscht hatte, als unscheinbar zu sein, ein Schatten, von dem sich niemand beleidigt fühlen konnte, der nicht auffiel. Sie wollte nichts anderes, als ihren täglichen Routinen nachgehen; die Straßen vor verantwortungslosen Rasern schützen und sich in aller Stille zu Hause vom Leben fernhalten, bis ihre Zeit auf dieser Erde vorbei war und sie ihre Sünden büßen konnte. Wie hatte sie zu einer … Nein, sie konnte es nicht aussprechen, nicht einmal denken konnte sie es. Zu einer Mörderin werden können.

Da, jetzt habe ich es gedacht.

Ihre Schritte waren so schwer, als wären ihre Schuhe mit Blei ausgegossen. Einen Moment lang blickte sie auf Kristinas Haus. Die dunklen Fenster wirkten wie leere Augenhöhlen. Dicke Wolken ballten sich grau und regenschwer über dem Haus zusammen, als wäre es heimgesucht. Was es auch war, denn dort lebte die Frau, die Marias Absturz in den Abgrund zu verantworten hatte.

Maria hatte keine Ahnung, ob Kristina und sie sich in der Tiefe aneinanderklammern oder ob sie sich beide unversehrt nach oben kämpfen, Mira retten und Robert der Gerechtigkeit übergeben würden. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass dieser Ausgang unmöglich war. Wenn Robert in Untersuchungshaft käme und vernommen würde, würde er alles verraten.

Nein, sie und Robert mussten in den Abgrund stürzen. Es gab keine Hoffnung auf Rettung mehr. Nicht einmal, wenn Mira wohlbehalten zurück und in Sicherheit wäre, könnte sie ihr altes Leben wieder aufnehmen. Mit drei Menschenleben auf dem Gewissen wäre sie nie wieder dieselbe. Die Einzige, die vielleicht mit heiler Haut aus dieser Geschichte herauskam, war Kristina.

Der Gedanke entlockte ihr ein Lächeln. Die düstere Wahrheit schenkte ihr Frieden. Sie hatte nichts mehr zu verlieren. Sie hatte den Weg beschritten und konnte ihn ebenso gut bis zum bitteren Ende gehen. Maria überquerte die Spiköbron. Die Autos fuhren so dicht an ihr vorbei, dass sie kaum den Arm ausstrecken brauchte, um sie zu berühren. Aber sie besaß genug Verstand, dem Impuls nicht nachzugeben.

Wenn es ihr gelingen sollte, Robert umzubringen, durfte sie keine Verletzungen riskieren. Zwar hatte sie noch keine Ahnung, wie sie es bewerkstelligen sollte, aber es würde ihr schon eine Lösung einfallen. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, nach Hause zu gehen und ihre Dienstwaffe zu holen, aber das kam ihr zu klischeehaft vor. Bei der Vorstellung musste sie unwillkürlich kichern.

Sie wagte nicht, die Straße zu überqueren und den Fagerstrandsbacken hochzulaufen, obwohl es der kürzeste Weg war. Der Verkehr war zu dicht. Stattdessen ging sie weiter und überholte eine Traube Paparazzi, die Kristinas Haus von der Brücke aus im Auge behielten. Niemand interessierte sich dafür, wohin sie ging. Sie war unbedeutend, niemand, den man bemerkte. Genau, wie sie es wollte. Ein Drohnenpilot verstaute sein Fluggerät gerade in einem Rucksack. Maria hatte keine Ahnung, ob er aufgegeben hatte oder Akkus aufladen musste. Es spielte auch keine Rolle. Die Leute beobachteten das Haus, das auch sie im Auge behalten sollte, bis Robert auf der Bildfläche erschien.

Denn er würde kommen, ganz gleich ob Kristinas Haus umlagert war. Wenn er klug war, bestellte er sie zu einem anderen Treffpunkt. In dem Fall würde Kristina sie informieren. Sie hatte unmissverständlich klargemacht, dass sie Robert nicht treffen wollte, ohne Maria in der Nähe zu wissen, falls er handgreiflich werden würde.

Und sobald das, was sie tun musste, ausgeführt war, würde sie, Maria, für immer in Vergessenheit geraten.