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Robert bog ins Stadtzentrum ein und fuhr am Drottningtorget vorbei in Richtung Kanal. Die Klappbrücke ging gerade auf, er musste an der Ampel warten. Seufzend schaltete er den Motor ab. Aus dem Beifahrerfenster war der Wintergarten des Swania zu sehen. Es war keine Stunde her, seit er diesen Ort verlassen hatte, und schon war er wieder zurück.

Während er darauf wartete, dass die Schranken hochgingen, rief das Warnsignal alte Erinnerungen wach an die Hunderte Male, an denen er im Lauf seines Lebens an dieser Stelle aufgehalten worden war. Seit er alt genug gewesen war, um zu verstehen, dass es eine Welt außerhalb von Trollhättan gab, hatte er etwas anderes sehen wollen. Und dieser Drang war mit jedem Jahr stärker geworden, mit jedem ewig gleichen »Tag der Wasserfälle« mit seinen Bierzelten und dem Öffnen der Schleusen des alten Flussbetts, dem einzigen Wochenende im Jahr, an dem seine Heimatstadt Ansätze von Leben zeigte.

Und trotzdem hatte es ihn erneut ins Kaff seiner Kindheit verschlagen. Er war im Stadtzentrum aufgewachsen, in einer Wohnung im Tingvallavägen mit Aussicht auf den Bahnhof, der inzwischen Reisezentrum hieß, und auf die damals existierende Trollhättans Tidning, die über Anna Fridhemssons tragischen Unfall berichtet hatte. Dass er es nicht weiter als bis Göteborg geschafft hatte, war nur ein weiteres Versagen in dem Debakel, das sich sein Leben nannte.

Jetzt war er zurück am Tatort, um die Frau zur Rede zu stellen, die behauptete, die Mutter seines Kindes zu sein. Robert schüttelte den Kopf. Die Klappbrücke senkte sich, und die Schranken gingen in die Höhe. Er überquerte die Brücke, fuhr links über die Malgöbron und bog anschließend auf den kleinen Parkplatz an der Strömkarlsbron ab. Es war dunkel geworden, und außer ihm war niemand dort. Robert blieb im Auto sitzen und atmete ein paarmal konzentriert ein und aus, bevor er zum vereinbarten Treffpunkt ging.

Dieselbe Stelle, an der sie am Dienstag zu viert zusammengekommen waren. Kristina hatte den Ort bestimmt, wie üblich. Er hatte nicht widersprochen. Es hätte keinen Sinn gehabt. In ihrem Viererbund war er der Macher gewesen, derjenige, der die Dinge ausführte, aber ausgeheckt hatte sie Kristina. Maria hatte die Rolle der Mitläuferin bekleidet, die ihnen widerspruchslos überallhin folgte, einfach um dabei zu sein. Erik hatte eigentlich keinen von ihnen gebraucht, aber trotzdem immer versucht, sich zum Wortführer aufzuschwingen und sie dazu zu bringen, das zu tun, was er wollte. Doch diese Konstellation hatte sich verändert. Erik war tot, Maria die Gefährliche, und das Einzige, was er über Kristina wusste, war, dass er ihr nicht vertrauen konnte.

Robert stieg aus dem Auto und lief über die Brücke. In der Mitte, auf Höhe der Strömkarl-Skulptur, blieb er stehen. Es war niemand da. Ein abendlicher Wind unternahm den fruchtlosen Versuch, das Rauschen des Wassers, das unablässig in Richtung Kraftwerk strömte, zu übertönen, zusätzlich verstärkt durch das Getöse, mit dem der Wasserüberschuss des Vänern durch die Schleuse in das alte Flussbett geleitet wurde. Robert ging weiter und blickte am Wasserfall entlang auf die ein Stück entfernte Oskarsbron. Das grelle Licht der Scheinwerfer, die den Touristen zuliebe am Flusslauf montiert worden waren, färbte die schäumende Gischt weiß. Er blieb stehen, beugte sich über das Geländer und studierte den Mechanismus, der die massive, grün gestrichene Schleuse öffnete und schloss. An den Stirnseiten des Wehrs schimmerten die Umrisse gigantischer Zahnräder. Für Wartungsarbeiten verlief längs des Damms und einen guten Meter oberhalb des Wasserfalls eine Stahlnetzbrücke. Die Kräfte, die dort entfesselt wurden, bereiteten ihm eine Gänsehaut, schaudernd wandte er den Blick ab.

In diesem Moment nahm er eine Bewegung wahr. In dem großen Tor des Sandsilos ging eine separate Durchgangstür auf, und eine vertraute Gestalt trat heraus. Kristina. Was hatte sie im Silo gemacht? Sie sah ihn, legte den Kopf schief und kam mit selbstsicheren Schritten auf ihn zu.

»Du bist also gekommen?«, rief sie, um das Tosen des Wasserfalls zu übertönen. »Ich dachte schon, du würdest kneifen.«

Robert hatte keine Ahnung, wie er das verstehen sollte. »Was meinst du?«, fragte er.

»Ich war vor dir hier«, antwortete Kristina und zuckte mit den Schultern. »Also habe ich die Zeit genutzt, um … etwas zu kontrollieren.«

»Im Silo?« Robert deutete mit dem Kopf auf das in der Bergwand eingelassene Tor. Abgesehen von der Durchgangstür war es mehr als doppelt so hoch, wie sein Körper lang war. Lastwagen fuhren dort ein und aus, aber er hatte keine Vorstellung, wie es im Inneren des Berges aussah.

»Ja.« Kristina lächelte. »Aber du wolltest über unsere Tochter reden?« Sie sah ihn fragend an, hielt seinen Blick fest.

»Woher weiß ich es?«, stieß er hervor und schluckte einen Kloß im Hals herunter. Plötzlich konnte er keinen klaren Gedanken mehr fassen. Warum war Kristina im Silo gewesen? »Ich meine, woher weiß ich, ob Mira wirklich meine Tochter ist? Ich habe sie nie getroffen. Ich weiß nicht einmal, ob sie mir ähnlich sieht.«

Kristina lächelte. »Sie hat deine Nase«, sagte sie. »Und deine Sturheit.«

»Das sagst du«, entgegnete Robert. »Aber ich brauche Gewissheit.« Er hob die Hand, um Kristinas offensichtlicher Erwiderung zuvorzukommen. »Ich habe nicht vergessen, dass Mira entführt wurde, aber ich will Gewissheit. Egal ob wir sie finden oder nicht.«

»Okay«, sagte Kristina. »Was willst du tun?«

»Ich will einen Vaterschaftstest.«

Kristina begann zu lachen. Der Wasserfall verschluckte das Echo. Ihr Lachen klang hohl und blechern. Trotzdem versetzte es ihm einen Stich ins Herz, wo seine Gefühle für Kristina noch immer lebendig waren, sosehr er sich auch dagegen sträubte. Kristinas Lachen verstummte, und sie strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Robert«, sagte sie sanft. »Vertraust du mir nicht?«

Jetzt war es an Robert zu lachen, aber es war ein leeres, freudloses Lachen. »Tut mir leid, aber nein, das tue ich nicht. Erst will ich Gewissheit. Dann können wir besprechen, wie wir weiter vorgehen, gemeinsam.«

Er begriff selbst nicht, was er da sagte. Hatte er gerade angeboten, Verantwortung zu übernehmen? War es wirklich das, was er wollte? Nach all den Jahren?

Kristina nickte. »Einverstanden«, sagte sie. »Wenn du eine DNA-Probe von Mira willst, dann finden wir einen Weg. Hier.« Sie hielt einen Schlüssel mit einem roten Plastikanhänger hoch. Der Anhänger war mit Sandsilo beschriftet.

»Was soll ich damit?« Robert riss den Blick von dem Schlüssel und sah in Kristinas blaue Augen. Ihre Miene war weicher geworden, und in ihrem Blick lag eine Zärtlichkeit, wie er sie nie zuvor gesehen hatte.

»Du hast so viele Fragen, Robert Silver«, sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die Durchgangstür im Tor des Sandsilos. »Du willst so viel wissen. Wie deine Tochter aussieht, was ich im Silo gemacht habe, ob ich die Wahrheit sage oder dich mit Lügen manipuliere. Geh und sieh nach.«

Robert nahm Kristina den Schlüssel aus der Hand, das Metall war noch warm von ihrer Haut. Sie legte ihm eine Hand auf die Wange, zog sein Gesicht zu sich heran und küsste ihn. Dann lächelte sie, sah ihn an, drehte sich um und ging in Richtung Innenstadt davon.

Widerstreitende Gefühle flammten in ihm auf. Einen kurzen Moment verspürte er den Impuls, ihr zu folgen, doch dann blickte er auf das Tor des Sandsilos und ballte die Hand um den Schlüssel.